Hans Leonhard: Wieviel Leid erträgt ein Mensch.
Aufzeichnungen eines Kriegspfarrers über die Jahre 1939 - 1945.
http://www.menschenkunde.net/Pfarrer


 

Flucht und Heimkehr

 

Am anderen Tag um neun Uhr bin ich mit einem Fahrrad, das ich irgendwo aufgegabelt hatte, über die Elbebrücke gefahren. Kaum war ich drüben, wurde nach mir geschossen. Ich habe das Fahrrad liegen lassen und bin in den Wald geflüchtet.

Auf allen Straßen fluteten die deutschen Truppen zurück. In einem Dorf wurden wir von Partisanen angegriffen. Jeder schoß mit der Waffe, die er zur Hand hatte oder die er fand. Es lagen genug herum. Das war das erste Mal, daß ich mit einer Panzerfaust geschossen habe. Mitten im brennenden Dorf stand ein Omnibus mit zerschossenen Fenstern. Ich hing mich in ein Seitenfenster nach außen, der Omnibus fuhr an und fuhr so nahe an einem LKW vorbei, daß ich eingequetscht wurde und mit zwei gebrochenen Rippen (so wenigstens hat es der Weidener Arzt nach vierzehn Tagen festgestellt) einem doppelt gebrochenen Arm und einem gebrochenen Finger, zerbrochener Brille und Hauptabschürfungen im Gesicht, für einige Augenblicke bewußtlos unter den LKW fiel. Ich konnte wieder aufstehen, habe meinen Arm, der rechtwinkelig abgebogen war, 'begradigt', ebenso den Finger. Den Fingernagel, der zurückgebogen war, konnte ich nicht anrühren. Ein Stück bin ich dann gelaufen, wurde aber dann von einer Selbstfahrlafette mitgenommen und habe die folgende Nacht auf dem Kotflügel geschlafen.

Am nächsten Tage ging es weiter. Alle möglichen Parolen wurden durchgegeben, so auch, wir dürften wieder mit dem militärischen Gruß, d. h. mit der Hand an der Mütze grüßen, nicht mehr mit »Heil Hitler«, wie wenn es darauf angekommen wäre.

Wir kamen in ein Dorf, als es plötzlich hieß: »Rechts ran!« Wir waren bei den Russen. Ich ging langsam auf der Straße weiter. Ein Russe nahm mir meinen Fotoapparat ab. Meinen Ehering und meine Uhr hatte ich in meinem Armverband versteckt, den ich mir unter Beihilfe eines Medizinstudenten angelegt hatte. Dann kam wieder ein Russe, sah mich kurz an, und winkte mir, mitzukommen. Er führte mich auf die Seite hinter die abgestellten Kraftfahrzeuge, bis wir ganz allein waren. Ich dachte nicht anders, als er werde mich jetzt erschießen, hatten wir doch so viel über die Russen gehört, und wir hörten doch schon ständig schießen und schreien. Ich weiß noch genau, ich überlegte nur: Was wird er jetzt machen! Sonst konnte ich nichts mehr denken. Ich mußte mich hinsetzen, und er zog mir einen Stiefel aus. Ich hatte mir in Polen neue, wunderbare Stiefel machen lassen, die stachen ihm ins Auge. Ich sagte »malinka«, zu klein. Er probierte und warf mir die Stiefel wieder hin. Mit einer Hand konnte ich ihn nicht anziehen. So ging ich mit dem Stiefel zurück auf die Straße und ließ mir von einem Kameraden helfen. Kaum hatte ich den Stiefel wieder an, kam schon wieder ein Russe und winkte mir. Ich hatte seinen Blick auf die Stiefel gesehen und sagte gleich: »malinka«. Er sagte aber »egal«, zog mir beide Stiefel aus und warf sie auf einen Karren, auf dem lauter Stiefel lagen. Ich bedeutete ihm, daß ich so doch nicht weitergehen könne; da hatte er anscheinend Mitleid, suchte ein paar Knobelbecher heraus und warf sie mir hin. Sie waren viel zu groß und hatten hinten ein großes Loch. Aber ich bin damit heimgekommen.

Alle Gefangenen wurden nun geteilt; auf die eine Seite kamen die Gesunden, auf die andere Seite die Verwundeten. Nun war es mein Glück, daß ich verwundet war, wenn auch nicht durch Waffen. Wir kamen auf eine große Wiese und blieben dort über Nacht. Die russischen Wachsoldaten verschwanden einer nach dem anderen. Wir konnten uns denken, wohin sie gingen. Wir hörten immer wieder Mädchen schreien.

Ich konnte nicht schlafen, hatte Fieber und Schmerzen. Die ganze Nacht rieselte eine feiner Regen nieder. In alle Frühe stand ich auf, sah einen Kriegspfarrer, ob evangelisch oder katholisch weiß ich nicht mehr, und suchte ihn zu überreden, doch mit mir zu versuchen, die Verwundeten in Richtung Westen zu führen. Aber er lehnte das ganz energisch ab und behauptete, er habe hier die Verantwortung übertragen bekommen. Ich weiß nicht, ob er sich selbst zum Oberbefehlshaber dieser Armee gemacht hatte oder ob ihm wirklich jemand den Befehl gegeben hatte. Jedenfalls ließ ich ihn stehen und suchte mir einen anderen Mann. Den fand ich in Gestalt eines Zahlmeisters. Nach kurzer Lagebesprechung mit ihm schrie ich von einer etwas erhöhten Stelle aus: »Alles aufstehen und mir nach!« Nun waren das alle Soldaten, die gewohnt waren, einen Befehl aufzuführen ohne zu fragen, wer ihn gegeben und wozu. Sie standen alle auf und folgten mir. Es war fast eine richtige Marschordnung. Mit dem Zahlmeister voran ging ein Mann mit einer Roten-Kreuz-Fahnen; woher sie war, weiß ich nicht. Ich stand auf meinem 'Feldherrnhügel' und überzählte die Kolonne. Es waren gut tausendachthundert Mann. Dann ging ich vor dem Zahlmeister, und das war gut, denn bald kamen wir an einem russischen Flakgeschütz vorbei. Ein Russe hielt uns an, und ich deutete in die Richtung, in die wir gingen und sagte: »Lazarett«; »ah«, antwortete er, »Lazarett«, und ließ uns passieren. Er wußte so wenig wie wir, wo ein Lazarett war.

Wir gingen weiter, aber bald kam das nächste Hindernis, und das war nicht mit einem Wort wie »Lazarett« zu überwinden. Es war die Moldau. Nebenbei gesagt, es war nicht weit weg von der Brücke, an der Gollwitzer (Und führen, wohin du nicht willst) in Gefangenschaft kam.

Hier bot sich uns ein Bild, das man kaum beschreiben kann. So benehmen sich Menschen, die wissen, daß es ums Leben geht und die nur eine Möglichkeit dazu sehen - »Rette sich wer kann« -: ein Kahn über den Fluß. Es waren Kähne da, aber keiner auf dem Wasser, alle am Strand, und um jeden stritten sich eine ganze Menge Soldaten. Einige sah man hinüberschwimmen; viele, so erzählte mir später jemand, seien ertrunken. Unsere Kolonne löste sich schnell auf. Ich ging ein Stück den Fluß entlang, zog mich aus und stopfte meine Kleider unter den Arm oder besser gesagt, unter das Tuch, in dem der gebrochene Arm lag und wollte versuchen, hinüberzuschwimmen. Ob ich es geschafft hätte, weiß ich nicht. Der Fluß war hier ziemlich breit und nicht reißend. So hätte ich mich abtreiben lassen können, nur, ob es mir nicht zu kalt gewesen wäre? Bevor ich ins Wasser ging, sah ich, daß etwas weiter aufwärts noch ein Kahn lag und nur ein kleines Häuflein Soldaten dabei. Ich zog mich wieder an, was eine schwere Arbeit, und ging hin. Im Kleinen hier das gleiche Bild. Sie stritten um den Kahn, keiner konnte hinein. Ein tschechischer Mann, ihm gehört wohl der Kahn, stand hilflos schauend dabei.

Zwei Ärzte, die dabei waren, sahen mich kommen und baten mich gleich, zu versuchen, die Leute zur Vernunft zu bringen, dann könnten wir alle ans andere Ufer kommen. Sie sahen alle auf mich, und ich brauchte gar nicht mehr viel zu sagen. Ich bat sie, sich in einer Reihe aufzustellen, dann sollten immer drei oder vier hinüberrudern und einer wieder mit dem Kahn zurückkommen. Er dürfte dann bei der nächsten Fahrt dabei sein. Ich selbst werde als Letzter fahren. Die hinter uns kämen, müßten sich hinter uns aufstellen. So kamen wir alle hinüber, ich mit den Ärzten und einem anderen Kameraden als letzter. Drüben ging wieder jeder seines Weges.

Ich traf einen Tschechen, gab ihm meine letzten Zigaretten und erfuhr von ihm, daß wir in der Nähe von Pisek waren, daß dort die Amerikaner und die Russen seien. Also auf keinen Fall nach Pisek! Kaum hatte ich das gedacht, waren Amerikaner da und wiesen mich zu einer Sammelstelle von deutschen Soldaten, die von allen Seiten hierher gebracht wurden. Ein Entrinnen war nicht mehr möglich. Es kam der Befehl zum Aufbruch, alles setzte sich in Bewegung auf der Straße Richtung Pisek. Ich sagte der Krankenschwester, die das Kommando übernommen hatte - wieso, weiß ich nicht -, wir dürften nicht nach Pisek; aber sie war sich ihrer Befehlsgewalt bewußt, niemand dürfe zurückbleiben sagte sie in strengem Befehlston. In Pisek würden wir auf LKW verladen und kämen nach Deutschland! - Ohne mich! Nun »konnte ich nicht mehr weiter«, blieb am Straßenrand sitzen, beobachtete die Gegend und wartete, bis der ganze Zug vorbei war. Etwa zweihundert Meter entfernt hatte ich einen einsamen Bauernhof entdeckt und einen alten Mann, der aus dem Brunnen Wasser holte. Ich konnte jetzt wieder gehen und lief über die Wiese hinüber, bekam auch Wasser von dem alten Manne und lief dann weiter zum Wald. Von irgendwoher kamen ein paar Schüsse, aber da war ich schon in Sicherheit.

Auf einem Waldweg traf ich ein paar Soldaten, die mir erzählten, sie kämen aus Pisek; dort würden alle nach dem Osten verfrachtet, ihnen sei gerade noch die Flucht gelungen. Wie aus dem Boden gewachsen, standen da plötzlich zwei Tschechen vor uns, das Gewehr auf uns gerichtet, und fragten, wohin wir wollten. Ich sagte sofort: »nach Pisek«, und bat sie, uns den Weg zu zeigen. Sie waren sichtlich erfreut und beschrieben uns genau den Weg. Soweit sie uns sehen konnten, gingen wir den uns beschriebenen Weg und verschwanden dann im Wald.

Von da an ging ich nur noch bei Nacht. Einen Kompaß hatte ich nicht mehr, aber jede Nacht war sternenklarer Himmel und den Nordpolarstern zu finden, habe ich einmal in der Schule und dann noch einmal bei der Ausbildung in der Kaserne gelernt. - Trotzdem war es nicht so ganz einfach, die Richtung einzuhalten, denn ich mußte durch viele Wälder gehen und sonst über freies Gelände, nie auf einem Wege. Einmal bin ich in einen Steinbruch hinuntergerutscht und habe mir die ganze linke Seite aufgeschlagen, so daß ich schon meinte, es ginge nicht mehr; aber es ging.

Jede Nacht war ich mit anderen zusammen. Einmal mit einem Leutnant. Er überredete mich, es doch einmal auf der Straße zu versuchen. Wir wollten gerade die Straße betreten, als wir wieder zwei Gewehrläufe auf uns gerichtet sahen und ein »Halt!« hörten. Der Leutnant sagte sofort geistesgegenwärtig »Ameritschani«. Wir konnten weitergehen. Es war so dunkel, daß sie unsere Uniformen nicht erkennen konnten.

Einmal brauchte ich drei Stunden, um eine Stadt zu umgehen. In einer Nacht suchte ich vom Abend bis zum Morgen nach einer Brücke über den Fluß und stand dann im ersten Morgengrauen auf einmal auf einer Eisenbahnbrücke, auf der kein Posten war. Erst als ich drüben war und im Wald, hörte ich Lärm und Mädchen schreien. Sie hetzten Hunde in den Wald. Aber Hunde, die nicht an der Kette sind, sind nicht gefährlich; da genügt ein kleiner Stecken, ausgenommen die Bluthunde in den KZ's und bei den Einheiten, die Partisanen zu bekämpfen hatten und die eingesetzt wurden, um fahnenflüchtige Soldaten einzufangen.

Genährt habe ich mich fast eine Woche lang von Sauerklee und einer rohen Kartoffel. Ich hatte zwar vorgesorgt und geröstete Weißbrotwürfel eingesteckt, aber dann Seife dazu. So konnte ich nichts mehr davon essen. Nur ein Stück Speck hatte ich noch, und den wollte ich als eiserne Ration aufheben, »wenn es nicht mehr gehe«. Ich sagte das einem Leutnant, und der sagte darauf: »Es geht nicht mehr«. Dann sagte er noch, obwohl das Unsinn war, weil er genauso wenig eine Ahnung hatte, wo wir uns befanden, wie ich, morgen kämen wir zu Deutschen. So teilte ich das Stück Speck, und wir aßen es. Ich wundere mich heute noch, daß wir es mit unserem ausgehungerten Magen vertrugen. Aber sonderbar - oder wunderbarerweise - beim ersten Morgengrauen waren wir an einem alleinstehenden Haus von Sudetendeutschen.

Wir bekamen ein wunderbares Essen und schliefen ein paar Stunden auf dem Heuboden. Ein Mädchen brachte mir vom katholischen Pfarrer der nächsten Ortschaft einen Zivilanzug, sogar einen grünen Jägerhut dazu. Jetzt ging ich bei Tag weiter, mußte nur immer aufpassen, wenn ein amerikanischer Jeep kam, denn diese hielten alle Männer an und brachten sie, wenn es Soldaten waren, zu einer Sammelstelle, von wo aus sie nach Rußland gebracht wurden. Einmal konnte ich mich nur noch dadurch retten, daß ich schnell einer Frau den Graskorb wegnahm, ihn auf den Rücken nahm und den Rechen in die Hand; der Jeep fuhr vorbei.

Ich kam in die Nähe der Grenze nach Deutschland, und man sagte mir, hier sei es besonders schwierig, nicht von den Amerikanern erwischt zu werden. Ich solle über den Mittagsberg gehen, auf dessen Gipfel die Grenze verlaufe. Vier Stunden brauchte ich bis oben. Oben stand ich vor dem Grenzstein, aber nun wußte ich nicht, nach welcher Richtung ich gehen müsse; es lag Schnee und kein zweiter Grenzstein war zu finden. Der Himmel war bedeckt und keine Sonne zu sehen. Ich sah mir die Bäume an, auch das habe ich bei der Ausbildung gelernt, auf welcher Seite sie verwittert waren. Aber auch das war nicht festzustellen. So ging ich in entgegengesetzter Richtung weiter als ich gekommen war. Nach zwei Stunden kam ich an ein Dorf, klopfte vorsichtig ans Fenster des ersten Hauses und fragte, wie die Ortschaft heiße. Es war die gleiche Ortschaft, von der ich vor sechs Stunden zum Mittagsberg aufgebrochen war, nur das andere Ende. Die Leute nahmen mich trotz meiner Bitten nicht auf; es stehe die Todesstrafe darauf, sagten sie mir. Sie beschrieben mir einen Weg in den Wald, wo ich nach einer Stunde eine Hütte finden werde. Ich fand die beschriebene Hütte nicht, aber eine Bauhütte, in der Matratzen lagen. Ich stieg durch das offene Fenster hinein und schlief sofort ein. Als ich wieder aufwachte, war es bald Tag. Ich sah, daß die Tür auch offen war - so blöd ist man, wenn man so fertig ist - und machte mich wieder aufs Geratewohl auf den Weg.

Nach ein paar Stunden hörte ich Frauen reden. Ich war schnell in den Wald gegangen, ging jetzt heraus und fragte, wo ich sei. Ich war auf dem Weg nach Zwiesel. Wo ich in der Nacht über die Grenze bin, weiß ich nicht, es war ein Freitag. Am Dienstag Abend war ich in Wilchenreuth bei meinen Eltern. Hier mußte ich noch ein paar Tage liegen und Umschläge auf meiner linken Seite machen, weil der Arzt fürchtete, es könne noch zum Eitern kommen.

 

Entlassung aus der Armee

Am Samstag bin ich mit meinem Bruder Oskar, der auch erst heimgekommen war, nach Neustadt, weil man mir sagte, dort bekäme man von den Amerikanern einen Entlassungsschein. Ich ging zum Posten beim jetzigen Landratsamt; er wies mich zu einem anderen auf der gegenüberliegenden Seite. Der wies mich an einen dritten bei der Post und der an den vierten gegenüber. Dieser Vierte ließ mich ins Haus und in ein Zimmer und schloß hinter mir zu. Ich war im Gefängnis. Ein Ortsgruppenleiter aus der Nähe von Tirschenreuth war mein Zimmergenosse. Zum Schlafen war Stroh da. Der Ortsgruppenleiter sagte, vor Montag käme niemand mehr, ich solle mich damit abfinden. Das tat ich aber nicht, sondern schlug solange an die Tür, bis ein deutscher Posten kam und mich zum amerikanischen brachte, der auf einem Stuhl saß und nur mit Kopfe in eine Richtung wies. Der deutsche Posten führte mich in die angegebene Richtung; da war ich wieder beim ersten Posten, der schickte mir wieder zum zweiten, der zum dritten und der wollte mich wieder zum vierten schicken. Damit war ich nun gar nicht einverstanden und stritt mich mit ihm so laut, daß ein amerikanischer Leutnant herauskam und sich erkundigte, was los sei. Ich sagte, ich sei verwundet, habe starke Schmerzen und müsse unbedingt in ein Lazarett. Er sah das ein und fragte, in welches ich wolle, ins deutsche oder ins amerikanische. Ich fürchtete eine Falle und sagte sofort, ich wolle ins amerikanische. Er nickte und wies mich nach Wöllershof. Ich ließ mir genau den Weg beschreiben, den ich seit meiner Kindheit kenne, und ging los, aber nur so weit, bis man mich nicht mehr sehen konnte, dann schnell rechts ab über die Glashütte zum Felixberg, wo mein Bruder noch mit meinem Fahrrad wartete.

Am nächsten Tag fuhr ich mit dem Fahrrad los in Richtung Watzendorf. Am übernächsten Tage, es war der 30. Mai 1945, war ich daheim. Die Watzendorfer sagten schon, als die ersten Soldaten aus der Gegend von Prag kamen (Podiebrad liegt fünfzig Kilometer östlich von Prag): »Wenn jetzt unser Pfarrer nicht bald kommt, kommt er nicht mehr; denn so schnell wie er läuft sonst keiner.«

Ich bin noch nicht ganz am Ende; ich war noch Gefangener, denn jeder Soldat, der nicht offiziell entlassen war und keinen Entlassungsschein vorweisen konnte, war Gefangener. So fuhr ich nach Coburg ins Gefangenenlager der Amerikaner, um mich entlassen zu lassen. Ich stand in einer langen Reihe vor einer Tür und mußte lange warten, bis ich dran war. Besonders mein Vordermann brauchte sehr, sehr lange. Er hatte mir vorher schon gesagt, er werde wohl kaum entlassen werden, weil er bei einer Spezialeinheit gewesen sei, die sich besonderer Beliebtheit erfreue. Aber als er herauskam, strahlte er und sagte mir noch, bevor ich hineinging: »Er fragte mich, was ich gewesen sei und als ich sagte »Fahrer«, hat er nur noch über Autos gesprochen und mich gefragt, welche ich für die besten halte, da habe ich natürlich gesagt, »die amerikanischen«. - Nun ging ich hinein. Der Mann saß dort, ein Bein auf dem Tisch und fragte gleich, was ich im Kriege gewesen sei. Ich sagte. »Pfarrer«. Da strahlte er übers ganze Gesicht, denn er hatte »Fahrer« verstanden und sagte »driver« - sehr gut und schrieb mir meinen Entlassungsschein aus.

Nun war der Krieg auch für mich zu Ende.


 

Aus: Lutz Lemhöfer: Gegen den gottlosen Bolschewismus. Zur Stellung der Kirchen zum Krieg gegen die Sowjetunion. In: Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. »Unternehmen Barbarossa« 1941. Herausgegeben von Gerd R. Ueberschär und Wolfram Wette. Frankfurt/M. 1991

Es gab nach dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 keinerlei Protest seitens evangelischer Stellen aller Lager. Im Gegenteil, der »Geistliche Vertrauensrat« griff sogleich auf die peinlich-pathetischen Predigttöne von 1914 zurück: »Die deutsche evangelische Kirche stand immer in treuer Verbundenheit zum Schicksal des deutschen Volkes. Zu den Waffen aus Stahl hat sie unüberwindliche Kräfte aus dem Wort Gottes gereicht. « 32 In dieser Tonart wurden auch weitere Angriffe und Siege gefeiert. Der Frankfurter Propst Alfred Trommershausen etwa verkündete im Vorwort zum »Frankfurter Kirchenkalender« 1941: »Geschichtliche Zeiten ohnegleichen erleben wir. Der Herr der Zeiten geht über die Erde und hält Gericht. Er straft das Verbrechen von Versailles, richtet alles Scheinchristentum und hebt unser deutsches Volk wieder zur Höhe empor.«

[...]

Die beiden großen Kirchen in Deutschland ließen in den Jahren 1939-1945 keine Zweifel an der Legitimität der deutschen Kriegführung erkennen. Sie predigten vaterländische Loyalität und Pflichterfüllung. Die von der NS-Propaganda genannten Kriegsgründe und -ziele, wie der angeblich notwendige Lebensraum im Osten, spielten in kirchlichen Verlautbarungen aber kaum eine Rolle. Das änderte sich allerdings mit dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Das Motiv des abendländischen Kreuzzugs gegen den Bolschewismus fand durchaus Widerhall in Äußerungen kirchenleitender Personen und Gremien. Über die Wirksamkeit solcher Erklärungen kann nur spekuliert werden; aber Christen konnten zumindest aus diesen Äußerungen die Meinung gewinnen, beim Kampf gegen den sowjetischen Kommunismus gehe es um die Sache Gottes und die Rettung des Christentums. Darin unterschied sich die kirchliche Wahrnehmung des Kriegsgegners Sowjetunion deutlich von den anderen Kriegsgegnern Deutschlands.

Nur die »Deutschen Christen« und der katholische Feldbischof Rarkowski übernahmen die NS-Kreuzzugspropaganda ohne jede Einschränkung und Bedingung. Wo in der katholischen und der Bekennenden Kirche der Kampf gegen den Bolschewismus aufgegriffen wurde, geschah dies zumeist verknüpft mit Anklagen gegen den »Kulturbolschewismus« der Nazis: deren Kirchenkampf wurde mit dem des Bolschewismus parallelisiert oder als Hindernis für den gemeinsamen Kampf aller Deutschen gegen den Bolschewismus herausgestellt. Die Unterstützung des Antibolschewismus der Nazis drückte sicher die Überzeugung der jeweiligen Kirchenvertreter aus, diente aber auch als Vehikel, um kirchlichen Forderungen Gewicht zu verleihen.

 

Ich freue mich über jeden
Eintrag ins Gästebuch
H.-W. Leonhard