TitelbildHans Leonhard

Wieviel Leid 
erträgt ein Mensch?

Aufzeichnungen eines Kriegspfarrers über die Jahre 1939 - 1945

Vorwort von Heinrich Albertz


Das Buch erschien 1994 im Buch&Kunstverlag Oberpfalz. Es ist beim Verlag vergriffen. Einige Restexemplare sind bei mir erhältlich, Anfragen bitte an hw.leonhard[at]web.de
Die Internet-Publikation wurde um einige Materialien ergänzt.
Januar 2002 / H.-W. Leonhard

Das Buch als PDF-Datei, ebenfalls ergänzt um einige Materialien. (2016)


Autor:

Hans Leonhard (1910 – 1977),
von 1937 – 1948 Pfarrer in der Gemeinde Watzendorf (bei Coburg), 
1939 eingezogen als Soldat, 
von 1940 – 1945 Kriegspfarrer, 
von 1948 – 1977 Pfarrer in der Gemeinde Neunkirchen – Mantel (bei Weiden/Opf.)

 

Inhalt

Editorische Notiz (Hans-Walter Leonhard)
Vorwort (Heinrich Albertz)
Soldat
Kriegspfarrer

    1. Im Lazarett
    2. Bei der Division
    3. Am Militärgefängnis
    4. Kriegsende
Flucht und Heimkehr

 



Editorische Notiz

Nach einer Krebsoperation mußte mein Vater 1975 zu einer Nachbehandlung mit radioaktivem Jod nochmals in die Klinik. Da er wußte, daß dabei der unmittelbare Kontakt zu anderen Menschen auf ein Minimum reduziert werden und er sich meist allein in seinem Zimmer aufhalten würde, nahm er auch seine Schreibmaschine mit und schrieb die hier veröffentlichten Aufzeichnungen nieder. Zu Anlaß und Zweck sagte er:

Vor einigen Jahren hat mich meine inzwischen verstorbene Frau gebeten, diese Erinnerungen aufzuschreiben, da sie eines meiner Kinder gefragt habe, warum ich so wenig von Krieg erzähle. Erst während meines Klinikaufenthaltes im vergangenen Jahr 1975 fand ich die Kraft und die Zeit und die Ruhe, diese Bitte zu erfüllen. Nachdem ich nun wenigstens einen Teil von dem aufgeschrieben habe, was ich in jenen schweren Tagen erlebt habe, möchte ich dieses Heftchen doch auch an einige weitergeben, von denen ich annehme, daß sie sich dafür interessieren könnten.

Der Bericht wurde damals in einer geringen Anzahl vervielfältigt; an eine Veröffentlichung hat mein Vater nicht gedacht und den Text auch nicht entsprechend überarbeitet. Als ich aber den Bericht vor einigen Jahren wieder einmal las, fragte ich mich, ob er nicht doch als ein gewissermaßen zeitgeschichtliches Dokument eine größere Leserschaft verdient und veröffentlicht werden sollte. Die Lektüre des Buches Am Ende des Weges von Heinrich Albertz, das auch einige Kriegserlebnisse enthält, brachte mich dann auf den Gedanken, ihn wegen dieser Frage anzuschreiben, obwohl er weder meinen Vater noch mich persönlich kannte. Er antwortete mir, der Bericht meines Vaters habe ihn "sehr angerührt" - und legte gleich ein Vorwort für eine mögliche Publikation bei. Dafür schulde ich ihm besonderen Dank.

Zwar verzögerte sich die Drucklegung aus verschiedenen Gründen, aber ich denke, daß das keinen Nachteil bedeutet: Im nächsten Jahr ist der fünfzigste Jahrestag der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht, ein Zeitpunkt, der genutzt werden sollte, um an Geschehnisse zu erinnern, die nicht vergessen werden dürfen.

Für die Veröffentlichung habe ich die Aufzeichnungen meines Vaters, abgesehen von einigen kurzen Auslassungen im ersten Abschnitt, unverändert übernommen. Eine Schwierigkeit ergab sich bei den Textteilen nach der Aussage Ich will von Briefen aus den Lazaretten abschreiben: Im Manuskript sind die dann folgenden Absätze durch Leerzeilen voneinander getrennt, aber nur zum Teil durch Anführungsstriche direkt als Briefauszüge gekennzeichnet. Einige dieser Absätze ohne solche Kennzeichnung sind jedoch eindeutig ebenfalls Briefauszüge, erkennbar etwa an den Hinweisen »gestern« oder »heute«. Bei anderen könnte es sein, daß es sich um Vorgänge handelt, an die sich mein Vater während des Abschreibens erinnerte und die so eindringlich im Bewußtsein standen, daß er sie in der Präsensform niederschrieb. Eine genaue Klärung war mir nicht möglich, da die Briefe nicht mehr existieren. Für die Herausgabe habe ich deshalb die Absätze, bei denen es sich zweifelsfrei um Briefauszüge handelt, in kursiv wiedergegeben, die anderen in normaler Schrift, und die einzelnen Absätze durch Sternchen voneinander getrennt.

Die Auswahl der Chroniken und zeitgenössischen Texte, die an einigen Stellen als ergänzende Information oder Kontrast zu den Aufzeichnungen meines Vaters eingefügt wurden, besorgte ich in Absprache mit Frau Julia Weigl und Herrn Günter Moser vom Buch & Kunstverlag Oberpfalz. Für die Gestaltung des Umschlages konnte ich Herrn Peter Compensis aus Nürnberg gewinnen.

Ihnen und dem Verlag gilt mein aufrichtiger Dank für die Annahme des Manuskriptes, die schöne Ausstattung des Buches und die verlegerische Betreuung.

Fürth, September 1994 / Hans-Walter Leonhard

 


Heinrich Albertz: Vorwort 

Persönliche Aufzeichnungen aus dem 2. Weltkrieg gibt es genug. Seltener schon sind Berichte jener "Leutnants ohne Achselstücke", der Kriegspfarrer beider großen Kirchen - ein umstrittener Dienst, zumal in der Wehrmacht des Verbrechers Adolf Hitler.

Hier freilich schreibt ein Mann, der schon 1933 wegen staatsfeindlicher Äußerungen in Untersuchungshaft war, und dessen lautere Gesinnung aus jeder Zeile spricht. Allein schon die Seiten über sein schweres Amt im Militärgefängnis Dubno, vor allem an den zum Tode verurteilten Soldaten, müssen öffentlich bekannt und hoffentlich von vielen gelesen werden.

In einer Zeit, in der es schon wieder als Vaterlandsverrat gilt, Gedenkmale für Deserteure aus Hitlers Armeen zu errichten, und das größer gewordene Deutschland 370.000 Mann unter Waffen halten will, ist die Lektüre dieser bitteren Erfahrung wichtig. Allein dieser eine Pfarrer hat 1944 dreißig Todeskandidaten zur Exekution begleitet. Wie alles, war dieser verordnete Mord auf deutsche Weise bis in alle Einzelheiten präzise geregelt, nachdem in fast allen Fällen die "Gerichtsherren", die feinen Herren Generale mit den roten Streifen an den Hosen, die Gnadengesuche abgelehnt hatten.

Es wird deutlich, wie unersetzlich - in aller Hilflosigkeit - die Hilfe eines Menschen war, des einzigen Menschen auf dem blutigen Platze. Mai 1944, als der Krieg längst verloren war und die ständig zurückflutende Front nur noch durch die Angst vor der Todesstrafe zu halten war.

Der Kriegspfarrer Leonhard beschreibt seinen Dienst in großer Offenheit. Seine inneren Qualen werden bloßgelegt. Er war kein Durchhalte-Prediger. Die hat es leider auch gegeben. Er war ein Diener seines Herren, den sie auch hingerichtet haben.

Man sollte sein schmales Buch in der Bundeswehr zur Pflichtlektüre machen.

September 1990 / Heinrich Albertz


 

Zeittafel

 1939 

01.09. Beginn des deutschen Angriffs auf Polen
03.09. Großbritannien und Frankreich erklären dem Deutschen Reich den Krieg
27.09. Kapitulation Warschaus
28.09. Neuer deutsch-sowjetischer Grenz- und Freundschaftsvertrag
07.10. Himmler zum »Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums« ernannt
09.10. Hitlers erste Weisung zum Angriff im Westen
12.10. Ernennung Franks zum Generalgouverneur der besetzten polnischen Gebiete (»Generalgouvernement«)
08.11. Georg Elsers Attentat auf Hitler im Münchener Bürgerbräukeller

1940

11.02. Deutsch-sowjetisches Wirtschaftsabkommen
01.03. Erste operative Weisung Hitlers für die Besetzung Dänemarks und Norwegens (Unternehmen »Weserübung«)
09.04. Besetzung Dänemarks; Invasion in Norwegen
10.05. Deutscher Angriff gegen Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Frankreich
10.06. Kriegseintritt Italiens
20.06. Waffenstillstand zwischen Deutschland und Frankreich
16.07. Hitlers Weisung für die Vorbereitung einer Landung in England (Unternehmen »Seelöwe«)
19.07. Hitlers Friedensappell an Großbritannien
27.09. Dreimächtepakt zwischen Deutschland, Italien und Japan
28.10. Italienischer Angriff auf Griechenland

 


Soldat

 

Ausbildung

Einen Tag vor dem Einmarsch in Polen wurde ich zum MG-Bataillon M 6 in Coburg eingezogen. Herr Streng, ein Kirchenvorsteher in Watzendorf, wollte mich trösten und sagte beim Abschied, die Ausbildung dauere ja nur einige Wochen, und bis dahin könne der Krieg ja schon aus sein. Die Ausbildung hat acht Monate gedauert und der Krieg fast sechs Jahre ... .

Von Coburg aus wurde ich im Januar 1940 an die Westfront abgestellt. Am Niederrhein, bei Vlyin, ging die Ausbildung weiter. Ich meldete mich zu allen möglichen Sonderkursen, da war man eine Zeitlang von dem blöden Exerzieren befreit. So machte ich einen Krankenträgerlehrgang, einen Gasspür- und einen Entfernungsmesserkurs mit. Der Entfernungsmesserkurs hatte den Nachteil, daß man das Entfernungsmeßgerät wieder reinigen mußte, und das war nicht einfach, wenn man es in den Schneematsch oder Dreck stellen mußte. Die Sache ging so zu: Der Leutnant gab ein Ziel an und eine geschätzte Entfernung. Der Entfernungsmesser mußte ohne Rücksicht auf Schmutz sein Gerät in Stellung bringen und so schnell als möglich die genaue Entfernung angeben.

Ein älterer Kamerad zeigte mir, wie man es auch machen könne, und von jetzt an war mein Gerät immer sauber: Der Leutnant schrie seine geschätzte Entfernung, ich wartete ein paar Augenblicke, dann schrie ich die 'richtige' Entfernung, d. h. eine Zahl, die immer sehr nahe an der geschätzten des Leutnants lag. Da freute sich der Leutnant, daß er so gut geschätzt hatte, und ich mich, daß ich mein Gerät nicht zu reinigen brauchte.

Nach diesen Kursen wurde ich zum »Lehrgang für Offiziersanwärter« eingeteilt, und das war kein Vergnügen. Die anderen Teilnehmer waren aktive Fahnenjunker und mehr als zehn Jahre jünger als ich. Kompaniechef war zuerst ein gemütlicher Studienrat, dann ein Blutsordenträger, der mir aber auch gewogen war. Nur der Kommandeur, ein Weingroßhändler aus Hamburg, hat sich oft in nicht schöner Weise über die Kirche und die Pfarrer geäußert. Gruppenführer war ein Feldwebel, ein ganz gemeiner Kerl, der von der Kirche nichts wissen wollte. Er hat mich schikaniert, wo er nur konnte. Ich konnte mich nur dadurch rächen, daß ich lächelte, wenn er Schach spielte, und daß ich dann beim Spielen immer siegte. Er konnte überhaupt nicht spielen, wollte es aber nicht einsehen.

In dieser Zeit wurde unser MG-Bataillon zum Kradschützen-Bataillon umgeformt.

Einsatz

Dann kam der Befehl zum Einsatz. Am ersten Tag der Offensive im Westen 1940. Es war schon ein sonderbares Gefühl, als wir die holländische Grenze bei Veenlo überschritten. Ganz anders noch war es, als zum ersten Mal der Befehl kam: »Fertigmachen zum Absitzen«, denn das hieß so viel wie »Fertigmachen zum Kampf«.

Wir mußten eine Ortschaft einnehmen. Ich war Gewehrführer, mein 'Schütze l' war ein guter MG-Schütze. Ich war nicht waghalsig und wollte unser Leben nicht unnötig aufs Spiel setzen; so gingen wir im Schutze einer Hecke vor. Der Zugführer wollte seinen Mut zeigen und lief mitten über freies Gelände, nicht weit, und er wurde durch einen Bauchschuß schwer verwundet. Ein Unteroffizier wollte es ihm gleichtun, lief auch mitten über die Wiese und schrie: »Alles hört auf mein Kommando« und fiel von einer Kugel getroffen tot nieder. - Manche haben nur deshalb ihr Leben lassen müssen, weil sie zu unvorsichtig waren.

Nachdem die Ortschaft eingenommen war, sah ich mich nach dem Feldwebel um. Er lag da mit einer furchtbaren Wunde. Mit einigen Verbandspäckchen bedeckte ich die Wunde und hielt sie eine Stunde lang zu, bis wir ihn auf einer Scheunentür zurücktragen und den Sanitätern übergeben konnten. Der Truppenarzt hatte wenig Hoffnung, aber in einem belgischen Krankenhaus wurde der Mann doch gerettet. Er schrieb mir von dort und bedankte sich, daß ich ihm das Leben gerettet habe. In Rußland traf ich ihn noch einmal; er hat den Krieg überlebt. -

Der berüchtigte Feldwebel war nun unser Zugführer. Er hatte einen Hund, den er irgendwo aufgegabelt hatte. Da die Feldküche weit hinten war, mußten wir selbst für Proviant sorgen. Wenn wir in einem Dorf - die Dörfer waren alle verlassen - etwas zum Essen fanden, mußte zuerst sein Hund etwas bekommen. Immer, wenn er Spähtrupp machen mußte, schaute er sich nach mir um. Ich mußte dann Feuerschutz geben. Die meisten Spähtrupps machte ich dann selbst als Spähtruppführer. Ein paar Kameraden gingen immer mit, »mit mir gingen sie gerne«, sagten sie, sonst nur auf Befehl. -

Ein Erlebnis bei einem Spähtrupp: In einem Haus eines sonst vollkommen menschenleeren Dorfes kam mir eine Frau mit ein paar Eiern in der Schürze entgegen, die sie mir angstvoll entgegenhielt. Ich wollte sie bezahlen, aber sie nahm nichts. Auf die Frage, warum sie denn nicht weg sei, sagte sie und zeigte dabei die Treppe empor, ihr Bruder sei gelähmt, den könne sie nicht allein lassen.

Wir mußten zurück, weil wir aus Versehen von der eigenen Artillerie beschossen wurden; als wir nach einigen Stunden wieder vorgingen, war kaum mehr ein Haus unversehrt. Das Haus, in dem die Frau war, war nicht beschädigt; sie kam gleich wieder die Treppe herunter. -

Wir hatten den Auftrag, eine Infanterieeinheit aus Hamburg in der Nacht abzulösen. Sie hatte ihre Stellung, d. h. Schützenlöcher, in einem großen Getreidefeld. Bevor wir kamen, war die Einheit schon abgerückt; so mußten wir die Stellung selbst suchen und das unter unheimlichem Granatbeschuß. Ein Unteroffizier ging hinaus, er kam nicht wieder. (Am nächsten Tag fanden wir ihn, ein Granatsplitter war durch den Stahlhelm tief in den Kopf eingedrungen.) Nun versuchte ich, die Stellung zu finden, gab es aber dann auf, da es einfach Wahnsinn gewesen wäre, bei diesem Feuer in die Stellung einzurücken. Ich sagte dem Feldwebel, wir müßten warten bis zum Morgengrauen. Da beschimpfte er uns und meinte, wenn wir zu feige wären, dann müsse er eben selbst die Stellung suchen, und ging hinaus. Wir lagen alle hintereinander im Straßengraben. Es dauerte nicht lange, da schrie der Feldwebel, er sei verwundet, wir sollten ihn holen. Keiner rührte sich, nur einer sagte halblaut: »Laßt ihn v..., den Hund«. Da rief der Verwundete plötzlich: »Pfarrer, hol' mich.« Da konnte ich nicht mehr anders, ich kroch hinaus und schleppte ihn zurück. Ihm war die Fußsehne zerschossen.

Nach dem Krieg traf ich ihn auf der Straße in Coburg. Er sagte: »Ach, das ist doch der Leonhard; ich weiß nicht, ob Sie es noch wissen, ich bin doch damals verwundet worden.« Kein Wort des Dankes; ich sagte: »Ja«, ich wisse es noch, und bin weitergegangen. -

Ich habe viel Schreckliches gesehen: Zwei Kinder, eng aneinander liegend, rote Mützchen hatten sie auf, beide von Granatsplittern getroffen, tot. Ich war dann bei den Eltern im Haus, nicht weit entfernt. -

Wir lagen vor Furnes an der Küste, hinter uns ein Güterbahnhof, vor uns sumpfiges Gelände. Der Güterzug war mit Sprengstoff beladen und wurde beschossen, so daß der ganze Zug in die Luft ging und einen riesigen Krater riß. Ein Haus neben uns stürzte ein. Eine Frau kam weinend, ihr Kind sei verschüttet. Ein Unteroffizier nahm, nur, um etwas zu tun, einen Balken weg und darunter ein Brett; da lag das Kindchen im Bett und schlief. -

Vor uns in der Schußlinie liefen Zivilisten in wahnsinniger Angst hin und her. Sie hörten nicht auf unser Rufen, doch zurückzugehen. Da legte ich mein Gewehr auf die Seite, kniete mich hin und hob ihnen die zusammengelegten Hände entgegen, so wie die Katholiken beten. Da sahen sie erstaunt auf, knieten auch nieder und falteten die Hände. Darauf bedeutete ich ihnen, sie sollten zurückgehen, und jetzt folgten sie; sie hatten keine Angst mehr. Einem alten Mann und einem Mädchen verband ich noch eine kleinere Wunde.

*

Am 21. Juni, als unser Wolfgang geboren wurde, war Waffenstillstand. Wir glaubten der Krieg sei aus. Mit den ersten, die in Urlaub fuhren, durfte ich mit, sechshundert Kilometer auf dem Lastwagen von Saarbrücken und dann mit der Bahn nach Neumarkt, dann nach Passau und von dort zum Truppenübungsplatz Wildflecken.

 

Als wir schon in Deutschland waren, bekam ich während des Urlaubs das EK II verliehen. Der Hauptfeldwebel sagte mir, ich sei schon zweimal vorgeschlagen gewesen, aber der Major habe es abgelehnt; beim dritten Mal mußte er es genehmigen. Ich habe mir nichts auf diese Auszeichnung eingebildet, besonders nach dem, was so viele in Rußland mitgemacht haben, aber es hat mir viel geholfen als Kriegspfarrer; man sah daran, daß ich auch Soldat an der Front gewesen bin.

In Wildflecken wurde ich »Kriegspfarrer a. K.«. Ich habe mich nicht darum beworben, die Kompanie hatte mich vorgeschlagen. Ein Jahr Dienstzeit und ein halbes Jahr Frontdienst waren Voraussetzung. Ich zog meine Uniform als Gefreiter, dazu war ich mittlerweile befördert worden, aus.


 

 

Zeittafel

1941

02.03. Einmarsch deutscher Truppen in Bulgarien
31.03. Angriff des deutschen »Afrika-Korps« unter Rommel in der Cyrenaika
06.04. Beginn des Feldzuges gegen Jugoslawien und Griechenland
13.05. Erlaß Hitlers über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet des geplanten Unternehmens »Barbarossa«
22.06. Angriff gegen die Sowjetunion
19.09. Einführung des Judensterns im Deutschen Reich

1942

20.01.  »Wannsee-Konferenz« über die Endlösung der Judenfrage
21./22.
07.
Beginn der systematischen Deportierung der Juden des Warschauer Ghettos in das Vernichtungslager Treblinka
11.12. Kriegserklärung Deutschlands an die USA
03.11. Britischer Durchbruch bei EI Alarnein
11.12. Kriegserklärung Deutschlands an die USA

 


Kriegspfarrer

Im Lazarett

Kriegspfarrer a. K., d. h. Kriegspfarrer auf Kriegsdauer, gab es erst sei Beginn des Krieges. Jede Division, außer der Luftwaffe und der SS, hatte einen Divisionspfarrer, der aktiv war. Die Kriegspfarrer a. K. wurden, vor allem am Anfang, in den Kriegslazaretten eingesetzt.

Ich kam zusammen mit dem katholischen Pfarrer Breinbauer an das Kriegslarazett in Arras, mußte aber die Truppen am Ort und in der Umgebung, sowie das Luftwaffenlazarett, mitbetreuen, außerdem das von der deutschen Besatzungsmacht verwaltete Gefängnis. Ein Franzose war zum Tode verurteilt, weil er einem englischen Soldaten eine Nacht Unterschlupf gewährt hatte, wurde aber später begnadigt.

Manche Ärzte waren der Kirche nicht sehr gewogen, machten mir aber keine Schwierigkeiten, wenn sie auch unsere Arbeit oft nur als Sterbehilfe ansahen. Hier hörte ich auch zum ersten Mal das Wort, das ich dann in den folgenden Jahren noch oft hören mußte: »Ein Fall für Sie«; wenn ihre Kunst am Ende war, durften wir uns um die Kranken kümmern. Ich möchte aber doch erwähnen, daß auch viele Ärzte - evangelische und katholische - unsere Arbeit, wo immer es ging, unterstützten.

*

Ein Kranker war im Lazarett, der über Schmerzen am Knie klagte. Alle verschiedenen Fachärzte untersuchten ihn, fanden aber nichts, so daß sie ihn für einen Simulanten hielten. Ärzte, Sanitäter, Schwestern redeten ihn ständig als Feigling an, der sich vor der Front drücken wolle. Ich redete auch mit ihm; er hat mir immer nur beteuert, daß er Schmerzen habe. Nach einem Fliegeralarm, bei dem alle im Keller waren, wurde er vermißt. Man fand ihn im Keller, er hatte sich erhängt. Dann kam der Pathologe aus Brüssel, der nun das Knie genau untersuchen konnte. Wie etwas ganz Nebensächliches erzählte er im Kasino beim Essen, daß das Knie krank gewesen sei und der Patient schon Schmerzen gehabt haben müsse. Trotzdem wurde er nicht mit militärischen Ehren begraben, sondern ohne alle Feier in einer Ecke des Zivilfriedhofes. Ich hätte auch nicht mitgehen dürfen, bin aber doch mit und habe mit den Trägern gebetet und den Segen gesprochen. Neben dem Grab lag schon ein anderer begraben, auf dem Grabhügel lag ein Neues Testament. -

Meine Gottesdienste waren, wie auch später, gut, oft sehr gut besucht, vor allem wohl deshalb, weil ich mich nie auf allgemeine Einladungen verließ, sondern soweit als irgend möglich persönlich einlud. -

Von Arras kam ich zur Standortkommandantur in Arlon in Belgien an der Grenze zu Luxemburg. Dort hatte ich vor allem ein Ersatzbataillon zu betreuen und die Lazarette in Luxemburg. Der Kommandeur des Bataillons, ein Ostpreuße, kam oft zum Gottesdienst; deshalb kamen auch die Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften. Immer spielte die Militärkapelle im evangelischen Gottesdienst, obwohl die Katholiken in der Überzahl waren. »Wo ich bin, ist auch meine Kapelle«, sagte der Oberst. Gleich vor dem ersten Gottesdienst wurde mir der Wunsch des Oberst gesagt: Er wünsche in jedem Gottesdienst den Vers: »Und wenn die Welt voll Teufel wär.«

Vor seiner Pensionierung hatte er noch den besonderen Wunsch, es sollte ein Gemeinschaftsgottesdienst gehalten werden, selbstverständlich mit dem Lied »Ein feste Burg«, diesmal alle Verse. Breinbauer war einverstanden; so konnte der Gottesdienst stattfinden, obwohl das von den Kirchen eigentlich nicht gestattet war. Ich habe die Predigt gehalten, Breinbauer die Liturgie, der spätere Kirchenmusikdirektor Wünsch aus Augsburg hat die Orgel gespielt. Über zwölfhundert Soldaten waren da. Wir waren dann noch zu einem Abschiedsessen eingeladen. Der Oberst sagte, er habe seiner Haushälterin befohlen, ihm zu melden, wenn der Krieg zu Ende sei, sonst wolle er nichts mehr hören. -

In Arlon mußte ich auch einmal als Pflichtverteidiger in einem Kriegsgerichtsprozeß fungieren. Ein belgischer Bahnbeamter war angeklagt, vom Inhalt der Eisenbahnzüge zum Atlantikwall erzählt zu haben, und zwar zu den Männern, die in Funkverbindung mit England standen. Der Mann wurde erst kurz vor Mitternacht von Namur nach Arlon gebracht; so mußte ich um Mitternacht mit ihm im Gefängnis reden. Obwohl er kein Wort deutsch konnte und ich kaum französisch, konnte ich ihm doch klarmachen, um was es ging, nämlich, daß er nur so erzählt habe, was er gesehen, aber nicht gewußt habe, daß das nach England weitergegeben würde. Er wurde freigesprochen.

Herr Klein, beim dem ich wohnte, hat nach vielen Jahren unserem Wolfgang, der ihn besuchte, davon erzählt. -

Von Arlon aus wurde ich einer Kriegslazarettabteilung zugeteilt, die in Paris zusammengestellt wurde und dann nach Rußland kam. Mit drei evangelischen Kriegspfarrern zusammen war ein kleines Eisenbahncupee für fast vierzehn Tage von Paris mit Makejewka meine Unterkunft. Ich habe im Gepäcknetz geschlafen. Jeden Morgen und jeden Abend habe ich mit meiner Trompete einen Choral und manchmal auch noch Volkslieder zum Fenster hinausgeblasen. Mitten auf freier Strecke habe ich in Rußland für die ganze Lazarettabteilung (3 Kriegslazarette) einen Feldgottesdienst gehalten, zu dem fast alle kamen. Ein Arzt sagte mir später, das sei der eindrucksvollste Gottesdienst gewesen, den er seit langer Zeit erlebt habe. Die anderen Kriegspfarrer hatten es nicht gewagt, ich habe vorher mit ihnen gesprochen. Die katholischen Pfarrer, das habe ich noch oft erlebt, hielten nie gerne Gottesdienst, wenn auch evangelische Soldaten mit dabei waren. Ein Gottesdienst ohne Meßopfer ist für sie kein richtiger Gottesdienst.

*

Unser erster Einsatz in Rußland ist Rostov - 1942. Viele Verwundete aus Stalingrad. Kein Licht, nur in den Operationsräumen Notbeleuchtung. In vielen Räumen kalt. Ich gehe von früh bis abends von einem Zimmer zum anderen. Es ist besonders schwer, mit denen zu reden, die ohne Heimaturlaub wieder nach Stalingrad eingeflogen werden.

Schreckliche Szenen werden aus Stalingrad geschildert, besonders wenn ein Flugzeug mit Verwundeten abfliegt und viele zurückbleiben müssen. An Weihnachten gehe ich den ganzen Tag über von einem Zimmer zum anderen, verlese das Weihnachtsevangelium und spreche ein paar Wort. Von daheim haben die meisten keine Nachricht. Am Abend noch ein Gottesdienst für die, die aufstehen können. Ein großes Spruchband, trotz allem, »Friede auf Erden«. Ein Soldat aus München hat sich im Laufe des Tages zu mir gesellt und spielt auf einer russischen Trompete zweite Stimme. Als ich spät am Abend in mein Zimmer komme, steht ein Christbaum, aus einem Besenstiel mit Fichtenzweigen von Kameraden aus einem Zimmer gefertigt, auf meinem Tisch.

Als keine Verwundeten mehr aus Stalingrad ausgeflogen werden können, wird unser Lazarett zurückverlegt. Der Güterwagen, in dem Breinbauer und ich und noch ein paar untergebracht sind, wird an einen falschen Zug, einen sog. Räumungszug, angehängt und wir fahren nach Münster. Von dort Urlaub und dann nach Dnjepropetrowsk. -

Hier wieder wie in Rostov Schwerverwundetenlazarett, über zweitausend Verwundete. Viele sterben, an einem Tag oft mehr als zehn, einmal vierundzwanzig. Wir gehen beide, Breinbauer, der katholische Kriegspfarrer, und ich den ganzen Tag durch die Lazarette, es sind mehrere Gebäude, schreiben Briefe an die Angehörigen, beten, drücken die Augen zu.

Bei einer Kriegspfarrerzusammenkunft wurde bekannt, daß manche Pfarrer ein vervielfältigtes Schreiben an die Angehörigen schickten. Das wurde vom Feldbischof verboten. Ein Lazarettpfarrer meinte, man kenne doch die wenigsten Verstorbenen. Ich kenne jeden, der nicht nur ein paar Stunden im Lazarett war. Manchmal komme ich in ein Zimmer, Breinbauer sitzt am Bett eines Sterbenden und liest aus dem evangelischen Gesangbuch vor, steht still auf und macht mir Platz. Er hat es etwas leichter, da mehrere katholische Pfarrer als Sanitäter da sind und immer wieder aushelfen. Ein evangelischer Pfarrer, der auch aushelfen sollte, sagte gerade zu einem Schwerverwundeten, als ich dazukam, er solle sich vorbereiten, denn er müsse bald sterben. Auf seine Mithilfe habe ich verzichtet. -

Manchmal ist es schwer, sich recht zu verhalten, die Verwundeten schimpfen über den Krieg, über Hitler, sagen offen ihre Meinung über den »Endsieg«. Kann ich riskieren, daß mich einer anzeigt, wenn ich meine Meinung sage? Haben die Verwundeten weiter Vertrauen, wenn ich schweige? »Herr Pfarrer, hören Sie«, ruft einer und liest aus einem Heftchen, das der Ortsgruppenleiter, der daheim die Stellung halten muß, geschickt hat: »Und wenn ich einmal sterben muß, dann will ich lachend sterben!« Höhnisch wiederholen es die anderen: »Dann will ich lachend sterben.« Ein Sanitäter winkt mich hinaus und warnt mich: »Im Nebenzimmer liegen Offiziere, einer schreibt mit, was Sie sagen.« -

In Breinbauer, mit dem mich im Laufe der schweren Jahre unserer gemeinsamen Arbeit eine tiefe Freundschaft verbunden hat, lerne ich auch die katholische Kirche kennen. Er geht am Abend, wenn es dunkel ist in den Sälen, mit seiner Taschenlampe durchs Haus und gibt den Sterbenden die Letzte Ölung. Die Angehörigen sind getröstet, wenn sie hören, daß der Gestorbene die Letzte Ölung empfangen hat. Ich war auch noch mit anderen katholischen Kriegspfarrern zusammen und habe bei ihnen festgestellt, daß es vielen nur darauf ankam, die Sakramente zu spenden, da war der Sterbende 'versehen', und sie gingen weiter. -

Wie in allen Lazaretten habe ich auch hier jeden Abend auf meiner Trompete gespielt. Manchmal konnte ich fast nicht mehr. Immer wieder kam eine Schwester oder ein Sanitäter, der mich um ein besonderes Lied bat. »Ein feste Burg« hat einer gewünscht, und als ich meinte, das sei doch ein Lied für ein besonderes Fest, da antwortete er, er habe Geburtstag, und das sei doch ein besonderes Fest. So habe ich seinen Wunsch erfüllt. -

Jeden Abend, wenn ich in mein Zimmer kam, habe ich noch schnell aufgeschrieben, was ich mit den Verstorbenen geredet habe oder was sie mir noch aufgetragen haben. Ich habe den Saal und die Lage des Bettes aufgeschrieben, wo der Betreffende lag, da konnte ich mir alles besser merken. Ich mußte, und das war besonders schwer, immer zehn Tage warten, wenn einer gestorben war; erst dann durfte ich schreiben. Die Angehörigen sollte die Todesnachricht zuerst durch ihren Ortsgruppenleiter erfahren. Ganz verzweifelt haben mir die Angehörigen geschrieben, ich solle ihnen doch mitteilen, was los sei, wie es gehe; oder wenn sie schon die Todesnachricht hatten, wie denn das Ende gewesen sei; und ich mußte warten und durfte dann nicht einmal den Grund meines Schweigens mitteilen, denn es war ein Geheimbefehl.

 

Briefe aus den Lazaretten

Ich habe fast ausnahmslos jeden Tag, meist spät in der Nacht noch, heimgeschrieben an meine Frau. Die Briefe sind wie ein Tagebuch. Ich will von Briefen aus den Lazaretten abschreiben; auch aus späterer Zeit:

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Heute war ich drei Stunden bei einem Sterbenden, der mich hat rufen lassen. Eine Schwester war da, aber er wollte mich haben. Ich mußte ihm aus der Bibel erzählen und mit ihm beten. Der einzige Sohn seiner Mutter, der Vater tot. Ich habe ihm die Augen zugedrückt.

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Heute hat mich einer gebeten, ich möge doch wieder wie gestern mit ihm beten. Ein anderer hat meine beiden Hände genommen und sich festgeklammert. Beim Spielen auf meiner Trompete ist einer, der gar nicht hätte aufstehen dürfen, auf den Gang zu mir gekommen und hat mich gefragt, ob ich das Leid »Weiß ich den Weg auch nicht« kenne? Ich habe es geblasen. Zwei Brüder von ihm sind gefallen, zwei hat er noch, er ist noch so jung. Die glaubst nicht, wie sich alle freuen, wenn ich spiele, alle sind ganz still. Und wie sie bitten können: »Nur noch fünf Minuten.«

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Heute habe ich besonders lange gespielt. Der Chirurg, ein Stabsarzt, hat mich bitten lassen, noch weiter zu spielen und die Tür zum Operationsraum offengelassen. So habe ich weiter geblasen, ein Lied nach dem anderen, bis es nicht mehr ging.

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Ein Verwundeter hat mich rufen lassen und gebeten, mit ihm zu beten, er könne nicht einmal mehr das Vaterunser. Er hat meine Hand nicht losgelassen solange ich bei ihm war. Als ich wieder zu ihm kam, sagte er, er habe viele Schmerzen, aber seit ich bei ihm gewesen sei, sei es ihm viel leichter. Bald danach ist er plötzlich gestorben. (1944)

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Immer wieder werde ich auch von einem Truppenteil, bei dem ich eine 'Kasernenstunde' gehalten habe, angerufen, ich möchte wieder kommen.

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Einer von der Strafkompanie erzählt von einem Gottesdienst, von dem alle furchtbar enttäuscht gewesen seien. Der Pfarrer hat sie als Verbrecher angeredet, das hörten sie schon oft genug.

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Es ist nicht einfach, wenn man in ein vollbesetztes Lazarett kommt. Eine Woche bin ich nun da und habe tausend Patienten besucht. Der katholische Kriegspfarrer (nicht Breinbauer) kann es schneller. Er geht von Saal zu Saal, sagt ein paar unverbindliche Worte und geht wieder.

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Abwechselnd war ich heute immer bei Sterbenden. Zwei habe ich noch einen Gruß auf ein Briefkarte schreiben lassen, damit ihre Frau noch einen letzten Gruß bekommt. Einem habe ich die Hand geführt, ein anderer war auch dazu zu schwach. (19.1.1943)

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Zehn Briefe an Angehörige habe ich geschrieben, nun kann ich nicht mehr. Es gibt so schreckliche Verwundungen. (14.7.1943)

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Vier von einer Strafabteilung liegen im Lazarett, halb verhungert: Einer hat nur einen Stiefvater, zwei haben keine Eltern und der dritte hat nur eine Mutter. Die Russenfrauen werfen ihnen heimlich harte Brotbrocken zu und haben doch selbst nichts. Ich habe jeder fünf Mark gegeben, damit sie sich doch etwas kaufen können. Sie haben selbst keinen Pfennig, sie waren so dankbar. (Rostov)

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Im 'Kopfzimmer' liegt ein Mann, der sein Gedächtnis verloren hat. Er weiß den Namen seiner Frau nicht. Ich sage ihm viele Namen vor; bei einem leuchtet sein Auge auf, doch im nächsten Augenblick ist es wieder vergessen. Er hat kein Soldbuch bei sich, niemand weiß, wer er ist. Er wird in die Heimat verlegt. Ob er sein Gedächtnis wiederbekommt?

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Ein Kriegspfarrer von einem Feldlazarett ist eingeliefert worden. Er ist mit seinen Nerven fertig, hat in kurzer Zeit 1500 Menschen beerdigen müssen.

 

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Wir halten abwechselnd, der katholische Kriegspfarrer und ich, die Beerdigungen. Heute hatte ich sie zu halten; 51 Tote waren es. (Dnjepropetrowsk)

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Ich mache von allen Gräbern Aufnahmen und schicke den Film an die Angehörigen; in Dnjepropetrowsk waren es über 600 - einschließlich der Katholischen.

Breinbauer und ich suchen immer die richtigen Soldbücher, die zu den Toten gehören. Wenn wir es nicht täten, würden viele als vermißt gemeldet und viele als unbekannte Soldaten beerdigt. Kein Wunder, wenn zwanzig oder dreißig Verwundete eingeliefert werden und die Soldbücher auf einem Haufen liegen. So habe ich einmal die Namen verwechselt; und als ich die Aufnahme eines Grabes heimgeschickt, schrieben mir die Angehörigen, der »Tote« sei in Urlaub gekommen.

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Ein verwundeter Hauptmann sagt: »Es war mir so schwer. Da haben Sie gespielt, ein Stück nach dem anderen, und da ist ein Stück nach dem anderen von dem Schweren abgefallen, jetzt ist mir ganz leicht.«

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Immer muß ich spielen, überall sehe ich Ihnen die Freude an, wenn ich in den Saal komme. Es sind Verwundete da, die seit 27 Monaten nicht mehr zu Hause waren.

Ein Schwerverwundeter hat mich wie ein Kind gebeten, doch bei ihm zu bleiben; er habe doch sonst niemand, mit dem er reden könne. Er hat einen Bauchschuß und ist erst neunzehn Jahre alt.

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Es ist bald Mitternacht, achtzehn Briefe habe ich geschrieben. (23.8.1943)

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Ein Verwundeter wurde eingeliefert, der den rechten Arm neben sich liegen hatte. Er war fast abgeschossen, da hatte er ihn vollends weggerissen; er wollte den Ehering mitnehmen.

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Einer diktiert mir an seine Braut einen Brief. Er sagt ihr, im Frühjahr werde es nichts mehr mit dem Heiraten, sie müßten bis zum Herbst warten; dabei steht ihm der Tod schon auf dem Gesicht geschrieben. Mir sind beim Schreiben die Tränen gekommen. Er ist bald darauf gestorben.

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Ein Verwundeter erzählt von seinem Divisionspfarrer: »Ich habe zum Abendmahl gehen wollen, aber wir waren nur drei; da meinte der Pfarrer, es lohne sich da nicht.«

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Ein Pfarrersohn, Student, liegt mit einem Lungenschuß Monate im Lazarett. Es wird immer schlechter mit ihm; ich schreibe fast jeden Tag an seine Eltern. Der Vater beschwört mich, ihm doch zuerst zu schreiben, wenn sein Sohn heimgegangen ist. Er wolle die Nachricht nicht durch den Ortsgruppenleiter erfahren. Ich schreibe, daß ich nun jeden Abend meinen Brief wie bisher an ihn schreiben werde, ihn aber erst am nächsten Morgen zuklebe und dazuschreibe, wie er die Nacht verbracht habe. Wenn der Zusatz fehle, dann sei er in der Nacht verstorben. So habe ich es gemacht, und der Vater war mir so dankbar dafür.

Ein Jahr vor seinem Tode hat er einen Abschiedsbrief an seine Eltern geschrieben; darin steht u. a.:

Ich gebe diesen Brief Dieter für den Fall meines Todes. Ich möchte Euch bitten: Weint, aber klagt und zweifelt nicht! Ich bin in dem festen Glauben meines Herrn in den Tod gegangen, und Ihr müßt nun zeigen, daß Ihr durch ihn eine Kraft empfangen habt. Ich weiß, es ist für Euch jetzt schwerer als für mich. Denn ich glaube fest, daß mich der Herr in Gnaden annimmt. ... Sucht mich nicht im Grab. ...

Mutti, ich schenkte Dir vor einigen Tagen einen Spruch und mit Bewußtsein diesen Spruch: Geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet! Hänge Dir diesen Spruch so, daß Du ihn immer sehen kannst und denke immer daran, daß ich ihn Dir geschenkt habe.

Auch ein Gedicht hat er hinterlassen, der letzte Vers heißt:

Die endlose Straße! Was bedeutet das Wort?
Die endlose Straße geht noch weiter fort,
wer weiß, wo sie wird enden?
Sie führt in den Himmel hinaus,
da hört auch die endlose Straße auf,
hier endet der Weg der Soldaten.

*

Ein SS-Sturmführer im 'Kopfzimmer', »unansprechbar« sagt der Arzt. Immer redet er mich mit Doktor an und fragt dann, wenn ich ihm sage, daß ich der Pfarrer sei, ob ich wiederkomme, dann schweigt er. Dann bleibe ich einmal an seinem Bett sitzen und bitte ihn, mir doch zu sagen, was er auf dem Herzen habe. Da kommt es, kaum hörbar, heraus: »Meine Frau erwartet ein Kind, ich wollte es nicht taufen lassen, aber schreib ihr, sie soll es taufen lassen. Detlev soll es heißen, wenn es ein Bub ist.« Dann konnte ich nichts mehr mit ihm reden, nicht lange danach war er tot. Seine Frau war so glücklich, als ich es ihr schrieb. Sie meinte, sie hätte es nicht fertiggebracht, Detlev - es wurde ein Bub - nicht taufen zu lassen; aber furchtbar schwer wäre es ihr gewesen, wenn sie gegen den Willen ihres Mannes, der ihr die Taufe verboten hatte, hätte handeln müssen.

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Ich habe es kaum erlebt, daß ich abgelehnt worden bin. Drei haben einmal um das Heilige Abendmahl gebeten und sind bald darauf gestorben. In den Soldbüchern erst sah ich dann, daß sie alle drei aus der Kirche ausgetreten waren.

Freilich, zwei- oder dreimal wurde ich von Sterbenden abgelehnt. Einer antwortete mir auf die Frage, ob ich ihm irgendwie helfen könne - er war gerade eingeliefert worden und lag auf der Trage im Hausflur -: »Ich brauche keinen Pfarrer, ich bin aus Berlin, das kann Ihnen genügen. Sagen Sie mir nur: Werde ich heute Nacht abkratzen oder wird es noch länger dauern?« Er ist in der Nacht gestorben.

*

Einer, der aus der Kirche ausgetreten war, sagte, ich dürfe schon mit ihm beten, aber nicht so, wie in der Kirche. Er sei aus der Kirche ausgetreten, weil sie das bei der SA verlangten. Aber was die sagten, glaube er auch nicht mehr.

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In einem Saal, in dem ich die Weihnachtsgeschichte vorgelesen habe, sagten sie, sie könnten die ganze Nacht zuhören, ich solle bald wiederkomme.

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Viele Patienten geben mir einfach die Briefe ihrer Frau, ich solle sie beantworten.

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Immer wieder besuchen mich Kollegen und bleiben bis spät in die Nacht. Ich lasse mir nicht anmerken, daß ich noch viel zu tun habe. Es tut ihnen wohl, einmal gemütlich in einem Zimmer sitzen zu können.

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In der Totenkammer liegen 27 Tote, und gestern war erst Beerdigung. Heute habe ich zwei Soldaten beerdigt, die von Polen überfallen wurden, als sie von der Front zurückkamen, um in Krakau einzukaufen. 20 Geiseln wurden dafür erschossen.

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Ich war am Massengrab, das man gefunden hat. Die Toten sehen aus wie Mumien; bei vielen sind die Hände auf den Rücken gebunden. Manche haben den Mund weit offen. In der Stadt sind Bilder von den Toten ausgestellt und Sachen, die bei ihnen gefunden wurden; das soll zur Identifizierung helfen. 8000 hat man bis jetzt geborgen. (Winnizza)

 


 

Befehl des Chefs des OKW Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel zur Zerschlagung von kommunistischen Aufständen (»Geiselmordbefehl«), 16. 9. 1941

 

1. Seit Beginn des Feldzuges gegen Sowjetrußland sind in den von Deutschland besetzten Gebieten allenthalben kommunistische Aufstandsbewegungen ausgebrochen. Die Formen des Vorgehens steigern sich von propagandistischen Maßnahmen und Anschlägen gegen einzelne Wehrmachtangehörige bis zu offenem Aufruhr und verbreitetem Bandenkrieg [ ... ]
Auf diese Weise entsteht in zunehmendem Maße eine Gefahr für die deutsche Kriegführung, die sich zunächst in einer allgemeinen Unsicherheit für die Besatzungstruppe zeigt und auch bereits zum Abzug von Kräften nach den hauptsächlichen Unruheherden geführt hat.

2. Die bisherigen Maßnahmen, um dieser allgemeinen kommunistischen Aufstandsbewegung zu begegnen, haben sich als unzureichend erwiesen. Der Führer hat nunmehr angeordnet, daß überall mit den schärfsten Mitteln einzugreifen ist, um die Bewegung in kürzester Zeit niederzuschlagen [ ... ]

3. Hierbei ist nach folgenden Richtlinien zu verfahren:

a) Bei jedem Vorfall der Auflehnung gegen die deutsche Besatzungsmacht, gleichgültig wie die Umstände im einzelnen liegen mögen, muß auf kommunistische Ursprünge geschlossen werden.

b) Um die Umtriebe im Keime zu ersticken, sind beim ersten Anlaß unverzüglich die schärfsten Mittel anzuwenden, um die Autorität der Besatzungsmacht durchzusetzen und einem weiteren Umsichgreifen vorzubeugen. Dabei ist zu bedenken, daß ein Menschenleben in den betroffenen Ländern vielfach nichts gilt und eine abschreckende Wirkung nur durch ungewöhnliche Härte erreicht werden kann. Als Sühne für ein deutsches Soldatenleben muß in diesen Fällen im allgemeinen die Todesstrafe für 50-100 Kommunisten als angemessen gelten. Die Art der Vollstreckung muß die abschreckende Wirkung noch erhöhen.

 


 

Heute war ich im Standortgottesdienst, ein älterer Kollege hat ihn gehalten. Vom tapferen Soldatenherzen und vom Herz auf dem rechten Fleck hat er gesprochen aufgrund des Gleichnisses vom Barmherzigen Samariter.

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225 Blätter habe ich in meinem Heft, auf jedem steht der Name eines Toten mit allen Angaben. Hinter jedem Namen steht ein Schicksal, manchmal so schrecklich grausam.

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Ich bin so müde, daß ich den Federhalter kaum noch halten kann. Ich war den ganzen Tag bei einem Sterbenden. Er hat nach dem Heiligen Abendmahl verlangt. Eine Stunde lang konnte ich dann noch mit ihm reden. Dann hat er das Bild seiner Braut vor sich gehalten, das dann auch auf die Seite gelegt und langsam das Vaterunser mitgebetet. Dann hat ihn das Bewußtsein verlassen.

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Viele sterben kurz nach Mitternacht. Eine russische Schwester gibt mir Kaffee, sie sorgt so für die Kranken, wie es eine deutsche Schwester nicht besser könnte.

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Ein Russe wurde eingeliefert, den Kiefer zertrümmert. Der Kieferchirurg gibt eine Spritze und sagt dann fast lachend: »Ein Deutscher wäre daran sofort gestorben.« Eine zweite Spritze tut dann die beabsichtigte Wirkung.
[Ich nehme an, mein Vater wollte mit dieser Formulierung ausdrücken, daß die zweite Spritze den Tod herbeiführte. (H.-W. L.)]

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Ich weiß nicht, wie ich es mit meinen Besuchen machen soll. Wenn ich alle vier oder fünf Tage komme, fragen sie mich, warum ich so lange nicht gekommen sei. Die Schwerverwundeten besuche ich jeden Tag. Tausend Patienten sind da! Wie soll ich sie alle zwei Tage besuchen?!

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Heute sagte einer, der über vierzig Grad Fieber hatte: »Warum kann denn meine Mutter nicht da sein, sie wüßte, was ich brauche.«

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Ich saß bei einem, der sehr hohes Fieber hatte und gab ihm zu trinken. Ich könne es besser als die Schwester, meinte er, und ich mußte bei ihm bleiben. Erst als er eine Spritze fürs Schlafen bekommen hatte, durfte ich gehen, mußte aber versprechen, wieder zu kommen, wenn er nicht schlafen könne und mich rufen lasse.

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Aus allen Zimmern rufen sie heraus, wenn ich vorbeigehe, alle brauchen sie etwas. In einem Zimmer haben sie sich beschwert, daß ich bei ihnen noch keinen Gottesdienst gehalten habe. Morgen will ich es tun.

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Der Heeresgruppenpfarrer hat mich besucht; er wollte nur ganz kurz bleiben, blieb aber dann zweieinhalb Stunden.

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Ein Kriegspfarrer hat Standortgottesdienst gehalten. Er predigte, wie müßten dankbar sein, daß wir einen Führer hätten, der uns von Sieg zu Sieg geführt habe. Er ließ singen:
»Nun danket alle Gott« und "Wir treten zum Beten ... da war kaum begonnen, die Schlacht schon gewonnen.«

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»Es ist wunderbar«, sagte ein Verwundeter, der aus Stalingrad ausgeflogen worden war, »wenn man ins Lazarett eingeliefert wird, und man hört plötzlich einen Choral blasen.«

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Wenn ich vor Zimmern mit Schwerverletzten blase, denke ich an das Wort von Kuhlo, es sei nicht leicht, einen mit Blasen aufzuwecken, aber eine Kunst, ihn einzuschläfern. - Heute wollte einer eine Wette eingehen, daß ich ein Flügelhorn habe und keine Trompete.

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Einmal hatte sich ein Major, der auf der Ohrenstation lag, zum Gottesdienst angemeldet und gesagt, die Kameraden von der Ohrenstation kämen alle mit; ich möchte nur etwas laut sprechen, da er sehr schlecht höre. Die Kapelle war voll; ich habe sehr laut gesprochen, so laut, daß mich nach dem Gottesdienst Kriegspfarrer H. und eine Schwester fragten, ob ich irgendeine schlechte Nachricht bekommen habe, weil ich so aufgeregt gesprochen habe. Der Major saß nur ein paar Schritte vor mir, beide Hände lauschend an den Ohren. Als er sich dann für den »schönen Gottesdienst« bedankte und ich ihn fragte, ob er denn auch alles verstanden habe, sagte er: »Leider kein Wort«. Er hörte wohl überhaupt nichts mehr. -

Vor einem Gottesdienst bei einer Krankensammelstelle hatte ich alle eingeladen und ihnen gesagt, mein Trompetenspiel ersetze das Läuten. Dekan T., der Heeresgruppenpfarrer, kam zum Gottesdienst und war schon etwas enttäuscht, als fünf Minuten vor Beginn noch niemand da war. Da sagte ich, ich werde noch ein paar Choräle spielen. Kaum hatte ich angefangen, strömten sie von allen Seiten herbei, und der Raum war bis auf den letzten Platz gefüllt. Nach dem Gottesdienst meinte der Dekan: »Es ist doch erstaunlich, was so eine Trompete ausmacht.« Ich habe ihm das Geheimnis nicht verraten.

* *

Ich habe viele, viele Briefe von den Angehörigen bekommen. Ich habe manche aufgehoben, will sie aber nun wegtun. Sie zeugen alle nur von dem furchtbaren Schmerz, den der Krieg mit sich bringt. Nur eine Mutter schrieb an den Chefarzt auf die Todesnachricht von ihrem Sohn: »Ich bin stolz, einen so lieben Menschen dem Vaterland opfern zu dürfen.« Aber sicher kann nur eine unter Tausenden so fühlen.

 

Einige Erlebnisse im Lazarett

Ein großer Saal mit Verwundeten, keine Schwerverwundeten dabei; immer das gleiche ängstliche Gefühl: Wie werde ich aufgenommen? Oft entscheidet der erste Augenblick, so auch hier: Ich stelle mich vor, und sofort kommt es aus dem ersten Bett in der Ecke: »Ein Pfarrer kommt zu uns, da freuen wir uns. Ich habe eine Berliner Schnauze; aber das sage ich, wer an der Front war, der hat gebetet, oder will es einer von euch bestreiten, Kameraden?« Es hat keiner bestritten, und ich bin lange in dem Zimmer geblieben.

Ein paar Tage später. Wieder der erste entscheidende Augenblick; diesmal aber ist es besonders schwierig. In dem Saal, den ich zum ersten Mal betrete, liegen nur Geschlechtskranke, keiner muß im Bett liegen. Etwa zwanzig Augenpaare starren mich fragend an. Ich stelle mich vor und wieder übernimmt sofort einer das Wort, aber nun so ganz anders als ein paar Tage vorher. »Ein Pfarrer sind Sie? Einen solchen brauchen wir nicht, Sie wollen uns ja doch nur Viehzüchter- und Zuhältergeschichten erzählen.« Das kenne ich nur zu gut aus meiner Nürnberger Vikarszeit, und ich antworte sofort: »Sie lesen wohl den Stürmer?« »Ja, der Stürmer ist meine Zeitung, wollen Sie etwas gegen den Stürmer sagen?« »Nein, das will ich nicht, er geht mich nichts an, aber Ihnen möchte ich nur eines sagen: Erzählen Sie mir eine einzige solche Geschichte. Wenn Sie mir nur eine erzählen, dann werde ich das Zimmer sofort wieder verlassen und Sie nicht weiter belästigen.« Alle standen jetzt um uns herum und starrten den Kameraden an. Der besann sich einen Augenblick und sagte dann: »Mir fällt gerade keine ein.« Jetzt hatte ich die Lacher auf meiner Seite, aber mein Gegner gab noch nicht auf. »Sie wollen uns vielleicht gar etwas vom Beten sagen; ein Mann betet nicht.« Nun sah ich den Mann mit der 'Berliner Schnauze' vor mir und entgegnete: »Ich habe Ihnen gerade versprochen, zu gehen, wenn Sie mir eine solche Geschichte aus dem Alten Testament erzählten. Nun verspreche ich Ihnen noch einmal, sofort zu gehen, wenn Sie mir auf meine Frage mit einem »Ja« antworten können: Waren Sie an der Front?« Ein kurzer Augenblick, dann: »Wir vom Nachschub haben auch unsere Pflicht getan.« Weiter konnte er nichts mehr sagen; die Kameraden sorgten dafür, schnell lag er auf seiner Pritsche. Mit den übrigen saß ich noch lange am Tisch und redete mit ihnen von den Geschichten des Alten Testamentes und dem Gebet. Am nächsten Tag waren sie alle im Gottesdienst, den ich im Geschlechtskrankenlazarett hielt. -

Freudig begrüßen mich die Kameraden in einem Zimmer, in dem ich schon lange bekannt war: »Schicksal, Herr Kriegspfarrer, Schicksal, daß wir heimdürfen ... und die anderen nicht« - sie deuten dabei auf das nächste Zimmer. Ich freue mich mit ihnen und gehe in das andere Zimmer. Dort kommt keinem das Wort 'Schicksal' über die Lippen. Es ist das 'Lungenzimmer' und alle sind dem Tode geweiht. Nur die Frage wird laut: »Warum?« -

Ein Lazarettzug ist angekommen, alle Zimmer und Gänge sind voll von Verwundeten. Da plötzlich höre ich ein freudiges Rufen: »Das ist doch unser Kriegspfarrer«; ein Leutnant, den ich im Gefängnis oft besuchte hatte, war zum Schützen degradiert worden und hatte Frontbewährung bekommen. Jetzt hatte er den rechten Arm verloren. -

 

Briefe von Angehörigen

Wie ich schon geschrieben habe, hatte ich neben meinem Dienst an den Verwundeten und Sterbenden noch eine andere Aufgabe, die mir viel Zeit wegnahm: die Briefe an die Angehörigen. Da ich wußte, daß die Angehörigen immer noch einmal etwas wissen wollten, habe ich zuerst nur kurz geschrieben und dann erst ausführlich. Ein Pfarrer, der im Krieg Offizier war, hat mir nach dem Kriege einmal gesagt, der Dienst mit der Waffe sei wichtiger gewesen als der Dienst als Pfarrer. Wenn ich nur einige Auszüge aus den Briefen lese, die ich aufgehoben habe, weiß ich, daß ich an der richtigen Stelle war und daß dieser Dienst viel, viel wichtiger war als der Dienst mit der Waffe, den ich ja über ein Jahr mitgemacht hatte:

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Eine Mutter: Es liegt mir alles daran, daß mein Kind selig sterben konnte. Weil ich nun alles aus Gottes Hand nehme, so halte ich stille, wußte ich ihn doch von Kindheit an im CVJM in Dorpat. Später wurde er Führer der Jugend dort. Gott sei diesen seinen Kindern gnädig und barmherzig. Nochmals herzlichsten Dank und Gottes Segen!

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Eine Mutter an den Chefarzt des Lazaretts: Bitte, verzeihen Sie, aber es ist schade, daß Sie meinem Sohn von dem hoffnungslosen Zustand seiner Gesundheit nichts gesagt haben. Er war christlich erzogen und würde vor dem Tode keine Furcht haben und sich zur Ewigkeit mehr vorbereiten. Dabei hätte er auch seinen Angehörigen noch ein letztes Wort hinterlassen.

Der Chefarzt schrieb routinemäßig an alle Angehörigen, der Verstorbene sei eingeschlafen, ohne etwas von seinem Sterben zu ahnen. Ich konnte die Mutter beruhigen und ihr schreiben, wie es wirklich war: Ich bin gegen 10 Uhr zu ihm gekommen und sah gleich, daß es bald zu Ende gehen werde. Er bat mich, mit ihm zu beten, und erzählte von seiner Mutter. Während wir dann das Vaterunser noch miteinander beteten, schlief er beim Amen ein. Er war bewußtlos. Eine Stunde blieb ich bei ihm und hielt seine Hand. Das Atmen wurde immer kürzer, und als ich schon glaubte, er habe den letzten Atemzug getan, sagte er plötzlich ganz langsam noch einmal: A m e n. Dann drückte ich ihm die Augen zu.

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Eine Frau: ... Es ist für mich ein sehr schweres hartes Leid; aber fügt es Gott nicht immer so, daß es zu ertragen ist? - Nach sechsjähriger glücklicher Ehe erwarte ich jetzt ein Kindchen als letztes großes Geschenk meines lieben Mannes, und das soll mir Trost sein. Möge mir die Freude vergönnt sein, daß ich in dem Kindchen meinen lieben Mann vor Augen habe, dann will ich Gott danken.

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Eine Mutter: ... Haben Sie ganz besonderen Dank für Ihre Mühe und Gott wolle Sie belohnen dafür. Ich denke mir, Sie sind wie ein gütiger Vater, der für seine Kinder sorgt. Diese Jungen brauchen in einem solchen Kampf noch einen Schutz.

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Eine Braut: Ich möchte Ihnen für die Worte wärmster Anteilnahme an dem herben Verlust meines geliebten Verlobten herzlichst danken. In meinem schweren Leid sind mir die Worte unseres Herrn Jesus Christus ein wirklicher Trost. ... Wenn wir auch jetzt nicht erkennen können, weshalb wir dieses schwere Leid tragen müssen; aber einst wird die Stunde kommen, da wir wissen, »was Gott tut, das ist wohlgetan«. Jesus sagte: »Was ich tue, das wißt Ihr jetzt nicht, Ihr werdet es aber hernach erfahren.« Daran will ich mich halten.

Es grüßt Sie in Glaubensverbundenheit ...

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Ein Vater (Rechtsanwalt Dr. jur.): ... Ich bin des Trostes sehr bedürftig. Wie sehr habe ich um meinen Dieter (Math.-Student, an Bauchschuß nach langem Leiden gestorben), getrauert, und nun nimmt mir Gott nach so kurzer Zeit, ebenso überraschend, ebenso gewaltsam, mein gutes, letztes liebes Kind Trude, mitten aus blühendem Leben. (Im Gebirgsfluß in den Alpen ertrunken). Was soll das heißen? Wie ist es mit den Haaren, die doch alle gezählt sind? Warum mir das? Werde ich bald folgen dürfen? Ja, ich fühle mich beheimatet zwischen zwei Welten! Aber die alte ist nicht mehr schön! Sie ist leer und gegenstandslos. Die Jugend so genommen! Das Alter bleibt übrig! Was sagen Sie dazu? Sie hatten so viel Verständnis! Dazu die Bombennacht vom 25.2., die mir alles nahm. Was soll das also? Ich bin so gebeugt, mein Herz ist unsagbar schwer. Wo sind meine Kinder? Sind sie beisammen? Wie kann ich sie erleben? Sagen Sie mir etwas dazu, Herr Pastor! Ich grüble und zermartere mich, einen Sinn zu finden, dem ich auch in Demut und Gehorsam mich beugen kann! Wo ist dabei mein himmlischer Vater? Wo ist dabei der Heiland, der die Welt überwunden hat? Sprechen sie zu mir? Wie kann ich das hören? Mit herzlichen Grüßen ...

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Vater einer Braut: ... Ich bin der Vater meiner einzigen Tochter Hilde, die demnächst die Braut des nunmehr im Kriegslazarett zu Rostov am 10.1.1943 seinen schweren Verwundungen erlegenen Gefreite Heinrich G. von hier werden sollte. ... Das Herz krampft sich uns zusammen. ... Hat denn, lieber Herr Pfarrer, Ihnen der arme Mensch während Ihrer Besuche bei ihm erzählt, daß er einst im Sommer 1922, kaum drei Wochen nach dem furchtbaren Raubmord an seinem damals 18 Jahre alten Bruder Heinrich, geboren wurde? Der entsetzliche Schlag, den seine damals vor der Niederkunft stehende Mutter getroffen hat, blieb anscheinend nicht ohne Folgen auf das Gemüt des werdenden Kindes; denn der Junge war allezeit ein tiefernster Mensch und fühlte sich stets geborgen im Kreise einiger junger Männer und Mädchen des hier bestehenden Jugendbundes. So fanden sich dieser Heinrich G. und mein einziges Töchterlein Hilde, die zusammen die Schule besuchten, dann 1937 zusammen konfirmiert wurden, in wahrhaft göttlichem Christenleben innerhalb des Jugendbundes auch in der echten Liebe zusammen. ... Sie haben einem lieben Gotteskind in seinen letzten schwersten Tagen noch göttlichen Trost und das Heilige Abendmahl reichen dürfen. ...

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Eine Mutter: Mein lieber Herr Pfarrer Leonhard! ... Wie stark müssen Sie sein, wo Sie den Tod bei blühenden jungen Menschenkindern so oft sehen müssen. Da gehört himmlische Kraft dazu. ... Ich danke Herrn Pfarrer noch vielmals herzlichst für die Vorbereitung auf die Ewigkeit. Das ist mein einziger Trost. Ich hatte in der Nacht vom 1. auf den 2. Juli einen schönen Traum. Über unserem Haus stand ein wunderbarer Kranz, an der Seite ein Strauß Kornblumen, Mohnblumen und dann lauter wunderbare Rosen: dann eine lange doppelte goldene Schleife dran. Die Sonne schien golden und der Kranz schwebte ganz langsam zum Himmel seitwärts über die Tannen hinweg. Das war die letzte Nacht, als mein Liebstes auf der Erde weilte. - Gott befohlen!

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Eine Mutter: Mein lieber Herr Leonhard! Oh, welch eine große Freunde, wenn auch sehr schmerzlich, haben Sie mir gemacht mit dem Bild vom Grabe. Von ganzem Herzen danke ich Ihnen dafür. ... Gott möge Ihnen beistehen und Sie behüten. Ich bete für Sie, damit, wenn es Gottes Wille ist, Sie gesund Ihre Heimat und Ihre Lieben wiedersehen. Ich danke Ihnen nochmal, daß Sie mit meinem Jungen gebetet haben. Sein Lieblingslied war immer: »O Ewigkeit, du schöne ...«. Gott möge mich stärken. Vom Leid tief gebeugt und doch meinen Blick fest nach oben, wo meine Hilfe kommt. ... Ihre ...

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Eine Mutter: Lieber Herr Pfarrer Leonhard! Aus überströmendem Herzen möchte ich Ihnen danken für Ihren lieben Brief. Ich habe ihn so oft gelesen, bis ich blind vor Tränen war. Im Geist drücke ich Ihnen Ihre lieben Hände, die mein einziges, geliebtes Kind in seiner letzten Stunden gehalten haben. ... Er war so gar keine Soldatennatur. Seine Bücher gingen ihm über alles, und er freute sich auf sein Studium. - Ich habe schon soviel Schweres im Leben durchgemacht, nun auch mein Heim und die ganze Wirtschaft diesem schrecklichen Krieg geopfert.

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Ein Vater: ... Unser sterbender Sohn vermochte seinen Eltern noch neue Kraft und Stärke zu übermitteln. ... In herzlicher Verbundenheit.

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Ein Vater: Für Ihre lieben Zeilen und Ihre Mühe und Aufmerksamkeit sage ich Ihnen und auch im Namen meiner Frau herzlichen Dank. Sie können sich ja wohl selbst denken, daß wir alles, was mit dem Tode und den letzten Lebensstunden unseres 17 Jahre alten Sohnes Paul zusammenhängt, gerne erfahren möchten. ... Es ist bereits unser zweiter Sohn, der in diesem Alter von uns gehen mußte.

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Ein Vater: ... Wir hoffen, daß Sie unser Brief noch gesund erreicht und daß Sie Kraft finden mögen, Ihr schweres Werk zum Wohle unserer armen Menschen weiterhin auszuüben.

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Ein Vater: ... Nicht Worte noch Schrift kann Ihnen für die mühevolle Tat danken, die Sie mir und meiner Familie getan haben. Es ist eine Gabe Gottes, wenn man sieht, daß Sie so liebevoll sind und versuchen, uns in unserem großen Schmerz und schweren Leid hinwegzuhelfen.

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Eine Mutter: Mein lieber, guter Herr Pfarrer Leonhard! Tiefbewegt und von ganzem Herzen gebrochen sende ich Ihnen diese Zeilen. Ich möchte Ihnen so viel schreiben, aber mein Herz ist so schwer und so voll Schmerz. Mein lieber, guter Herzenssohn, mein über alles geliebter Sonnenschein ist in die Ewigkeit zu seinem lieben Bruder Ewald, der am 22. Februar in Stalino gefallen ist, vom lieben Heiland gerufen. ... Der Wille unseres lieben Heilandes hat es entschieden. Denken wir an all die großen Schmerzen, welche er mit so großer Geduld getragen hat. Die Kraft hat er geschöpft aus unserem Gebiet und seinem festen, unerschütterlichen Gottesglauben. Unser himmlischer Vater hat ihn vom Irdischen erlöst und zu sich genommen in die ewige Seligkeit, wo es keine Tränen mehr gibt. ... Das ist mein einziger Trost, daß man lieber, guter Alfred wohl vorbereitet, versehen mit dem Heiligen Abendmahl, die Hoffnung hatte auf ein Wiedersehen beim himmlischen Vater. ... Lieber Herr Pfarrer Leonhard! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für all Ihre Mühe und Aufopferung, welche Sie in so reichem Maße diese vier Monate größter Leiden und Schmerzen meinem lieben, guten Alfred geschenkt haben. Sie waren ihm sein liebster Freund, das weiß ich bestimmt. Viele liebe und treue Grüße!

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Ein Vater: ... Es war unser zweiter und letzter Sohn. Der erste ist schon im Jahre 1940 gefallen. Durch die völlige Zerstörung unseres Heimes (in Wuppertal) sind auch sämtliche lieben Erinnerungen an unsere Kinder vernichtet worden. - Sollten Sie irgendetwas in Erfahrung bringen über die letzten Stunden unseres Sohnes, so wären wir Ihnen von Herzen dankbar.

(Habe mit dem Sterbenden nicht viel reden können und wollen, da er sehr große Schmerzen hatte. Habe die Schwester gebeten, an die Eltern zu schreiben.)

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Eine Frau: ... Ich kann es einfach nicht fassen, daß ich ihn nie mehr zurückbekomme. Er ist strahlend vom letzten Urlaub an die Front gefahren. Dieses »nie wieder« ist schrecklich. Ich habe so jeden Halt verloren und stehe immer vor einer Wand. Mein Mann war mir alles. Ich habe gebetet, jeden Morgen und jeden Abend und danach gelebt, und es ist alles zwecklos gewesen. ... (Dann die Bitte, mich nach seinem Tagebuch umzusehen.) Sicher hat er im Urlaub noch etwas hineingeschrieben. Ich habe ja alles aus der Zeit in Rußland nicht lesen dürfen. »Später«, sagte er immer, »wenn der Krieg vorüber ist.« (1912 geboren)

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Eine Frau: Tausend Dank für Ihre trostreichen Worte, für Ihre Mühe. Bin Ihnen, Herr Pfarrer, zu großem Dank verpflichtet. Für die Aufnahme am Grab meines lieben Mannes möchte ich Ihnen besonders danken. Trotz dem harten Leid ist es ein wenig Freude im Herzen. Bitte, Herr Pfarrer, hat mein Mann nichts von mir, von unserem Kinde, das ich unter dem Herzen trage, gesprochen? Mein Mann war so glücklich darüber und nun soll alles vorbei sein. Wie hab ich gebetet und gefleht um Erbarmen. ... Wie wohl tuts, wenn man Worte hört, die der Liebste gesprochen hat. Dafür danke ich Ihnen tausendmal. Für mein Kind, als letztes Vermächtnis, werde ich leben, aber das Herz ist wund. Möge Gott mir die Kraft geben, alles zu tragen, dann will ich dankbar sein um des Kindes willen.

(1916 geboren; lag vergessen fast zwei Tage im Sterbezimmer, dann im Kopfzimmer, hat wegen Kopfsteckschuß kaum noch etwas sagen können.)

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Eine Frau: (Dank für Aufnahme des Grabes) ... Wie dankbar bin ich, daß mein lieber Mann noch dieses große Geschenk einer ehrenvollen, christlichen Beerdigung erhalten hat. Inzwischen ist der Friedhof längst nicht mehr in deutscher Hand, aber was tuts? Die Seele ist woanders, und der kann niemand etwas anhaben. ... Mit vielen guten Wünschen für Sie in Ihrem schweren, aber auch schönen, segensreichen Beruf bin ich Ihre dankbare ...

(Hauptmann, 1914 geboren, aus Hamburg. Ich war noch am Vorabend seines Todes bei ihm.)

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Mutter, ersten Mann im Weltkrieg 1918 verloren, wieder geheiratet, nach 3 Jahren Sohn, im zweiten Weltkrieg der zweite Mann gestorben und acht Wochen später der Sohn eingerückt nach Frankreich und Rußland, nie mehr im Urlaub, 1943 mit 21 Jahren an Verwundung gestorben. Nach Nachricht von Verwundung: 
Wenn ich nur von ihm selbst geschrieben seinen Namen Hermann lesen würde. Ich bin unglücklich, Herr Pfarrer, über das Einzige, das ich noch besitze. Lieber Herr Pfarrer, sollte er noch dort und schwach sein, daß er selbst nicht schreiben kann, dann bitte ich Sie lieber Herr Pfarrer, ihm die Hand zu führen, bis er Hermann geschrieben hat. Für alles, was Sie bis jetzt getan haben, vielen herzlichen Dank. Der liebe Gott wolle Sie stets beschützen.

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Frau auf Nachricht von Verwundung, Brief am 5. Mai geschrieben: 
Mein Mann ist seit November im Feld, seitdem ohne jede Nachricht von ihm. Besuchen Sie bitte meinen Mann sobald als möglich und teilen Sie ihm mit, daß ich und die Eltern gesund sind. Am 12.2. ist ein kleiner strammer Junge angekommen. Er heißt Lutz und soll am 16.5. getauft werden.

(Am 12.5. gestorben, Kopfschuß, bewußtlos, völlig aufgelegen bis auf die Rippen. Bruder wollte ihn zwei Tage nach dem Tod besuchen. Gut, daß er ihn nicht mehr in diesem Zustand sehen konnte.)

*

Vater: ... Wir können es immer noch nicht glauben, daß mit seinem Tode die Krone von unserem Lebensbaum gebrochen ist, daß unser schönes Haus, unser Alter einsam und liebeleer sein soll. Aber wir wollen in schweren Stunden immer daran denken, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen.

(Sohn 19 Jahre alt.)

*

Frau: Schreibt, daß sie seit der Nachricht von der Verwundung ihres Mannes täglich geschrieben hat. Kein Brief kam an. Einen Tag nach dem Tode kam der erste an. - Habe der Frau geschrieben, daß ich ihren Mann oft besuchte, daß er in einem Zimmer lag, das mir gegenüber war, daß ich mit ihm gebetet und auf seinen Wunsch auf der Trompete, die ich immer dabei hatte, das Lied »So nimmt denn meine Hände« gespielt habe.

*

Mutter: Lieber Herr Pfarrer! Ach, wie dank ich Ihnen für Ihren lieben, lieben Brief und den Film vom Grabe meines Kindes. ... Gewiß haben Sie auch an seinem Sterbebett gebetet. Haben Sie ihn auch beerdigt? Bitte, beten Sie an seinem Grabe. Willy war mein jüngster von meinen vier Söhnen. ... Mein Zweitältester ist seit August 1942 bei Orel vermißt. Er war Diakon in Rummelsberg. Der Große von meinen beiden Söhnen steht in Rußland, der andere in Finnland. Im Mai vorigen Jahres starb mein erster Mann. - Der Herr führt mich dunkle Wege, aber in seinem Lichte wird einmal alles Dunkle Licht sein.

(19 Jahre alt.)

*

Frau (Dr. med.): Sie brachten mir viel Trost und Beruhigung, Herr Pfarrer. Ich danke Ihnen nochmals von ganzem Herzen.

*

Nun noch einige Auszüge aus Briefen von Angehörigen an die Verwundeten, die ich nicht mehr vorlesen bzw. übergeben konnte:

Ein Bruder an den Bruder: Wie froh und dankbar sind wir, nach langem, bangem Warten nun endlich etwas über Dich durch den lieben Kriegspfarrer Leonhard zu hören. Ach, liebes Brüderlein, unsere Herzen weilen alle ständig bei Dir und helfen tragen an Deinen Schmerzen und Deinem Leid. Wir beten täglich immer wieder für Dich zu unserem treuen Herrn, daß er dich erhalte. ... Gott allein kann alle Bemühungen segnen, welche man Dir zuteil werden läßt, und das ist so schön, ihm völlig zu vertrauen. (Bruder auf Urlaub.)

Mutter von diesem: Der treue Gott, unser lieber Vater, der uns durch Jesus zu seinen Kindern gemacht hat, läßt nur zu, was gut für uns ist.

Der Vater des gleichen: Gestern erhielten wir durch den lieben Pfarrer Leonhard nähere Auskunft über Dich. Unser Trost bei all diesem Warten war, daß wir Dich in Gottes treuer Vaterhand wußten, der Dich zu bewahren vermochte. Und nun bist Du in die Hände guter Menschen gekommen; darüber freuen wir uns und danken Gott dafür. ... Und sollte es nach Gottes heiligem Rat anders werden, so wissen wir aus seinem untrüglichen Worte: »Leben wir, so leben wir ... « (Röm. 14, 7, 8) Er selbst, unser Herr Jesus Christus und unser Gott und Vater hat uns ewigen Trost und eine gute Hoffnung gegeben durch seine Gnade. (2. Tess. 2, 16)

Die Mutter dazu: Mein liebes Kind, am 3.4. habe ich es gefühlt, daß Dir etwas passiert ist. Ich hatte mir den Tag aufgeschrieben. Der Herr Jesus hat es zugelassen, der hilft es Dir auch tragen. Die Wege Gottes sind in der Tiefe des Meeres, die können wir nicht ergründen. Uns soll aber alles zum Guten dienen.

(Schwere Kopfverwundung, habe öfters an die Eltern geschrieben, noch kurz vor dem Tode, daß es sehr ernst stehe, Vater Landwirt.)

**

Es ist ein schöner Gedanke, zu wissen, daß in vielen, vielen Wohnungen in ganz Deutschland, im Westen und im Osten die Aufnahmen von den Gräbern hängen, die ich gemacht habe; allein vom Soldatenfriedhof in Dnjepropetrowsk über sechshundert. Ich hätte die Aufnahmen nicht ohne die Hilfe meiner lieben Frau machen können. Sie hat an alle Fotogeschäfte, die sie ausfindig machen konnte, vor allem in Nürnberg, geschrieben und so viele Filme bekommen, daß ich immer welche hatte. Nur der letzte Film mit den Aufnahmen aus Bad-Podiebrad ist im Apparat geblieben, den mir die Russen bei meiner Gefangennahme abgenommen haben. - Ich frage mich manchmal, wenn ich an jede schwere Zeit zurückdenke, wo mein Dienst am dankbarsten angenommen wurde, und ich weiß keine Antwort; im Lazarett oder bei der Division oder im Gefängnis? Sie standen alle an der Grenze zwischen Leben und Tod.

Bei einer Zusammenkunft aller Kriegspfarrer bei der Heeresgruppe Süd mit dem Feldbischof D. Dormann saßen wir alle in einem großen Kreise, jeder sollte von seiner Arbeit erzählen. Der erste fing an und erzählte nur von den Schwierigkeiten, die er hatte. Der zweite fuhr fort und so weiter; jeder redete nur von seinen Sorgen und Nöten. Das Gesicht des Feldbischofs wurde immer ernster. Dann kam ich an die Reihe. Ich hätte auch von manchen Schwierigkeiten reden können; aber das brachte ich jetzt nicht mehr fertig. Ich erzählte nur von all dem, das mich alle Tage dafür danken ließ, daß ich diesen Dienst tun dürfe. Mit gleicher Dankbarkeit denke ich heute noch an diese schwere Zeit zurück, in der ich doch erleben durfte, daß »das Wort nicht leer zurückkommt, sondern ausrichtet, wozu es gesandt ist«.

 

 

Weisung Hitlers für die Heeresgruppe Mitte, 20. 12. 1941

 
[ ... ] 1. Der fanatische Wille zur Verteidigung des Bodens, auf dem die Truppe steht, muß mit allen, auch den schärfsten Mitteln der Truppe eingeimpft werden. Wenn jede Truppe in gleicher Weise von ihm beseelt ist, dann werden die Angriffe des Gegners, auch wenn sie an einzelnen Stellen zu Einbrüchen bzw. Durchbrüchen führen, letzten Endes zum Scheitern verurteilt sein. Wo dieser Wille jedoch nicht in vollem Umfange vorhanden ist, wird die Front ins Wanken geraten, ohne daß eine Aussicht besteht, sie in einer vorbereiteten Stellung wieder zum Stehen zu bringen. Denn darüber muß sich jeder Offizier und Mann im klaren sein, daß das Ausweichen die Truppe den Gefahren des russischen Winters in viel höherem Maße aussetzt, als das Aushalten in einer, wenn auch dürftig hergerichteten Stellung. Abgesehen von den erheblichen und unvermeidlichen Materialverlusten, die bei einer Ausweichbewegung eintreten müssen. Der Russe wird einer ausweichenden Truppe sofort nachstoßen, er wird sie nicht zur Ruhe kommen lassen, sie immer wieder angreifen und anfallen, ohne daß diese Truppe einen Halt finden würde, weil rückwärtige vorbereitete Stellungen fehlen. - Das Wort vom Napoleonischen Rückzug droht Wahrheit zu werden. Es darf daher nur dort eine Ausweichbewegung vorgesehen werden, wo weiter rückwärts eine Stellung vorbereitet ist. Nur wenn der Soldat sieht, daß er nach dem Absetzen vom Feinde wieder in eine, wenn auch notdürftig hergerichtete Stellung hineinkommt, wird er das Absetzen verstehen. Nur dann wird ein solcher Rückzug das Vertrauen zwischen Truppe und Führung nicht untergraben. Erlebt aber die Truppe, daß sie eine Stellung verlassen muß, ohne daß ihr dafür ein entsprechender Ersatz geboten wird, dann droht sich aus jedem Rückzug eine Vertrauenskrise zur Führung zu entwickeln. -

2. Dem [!] Absinken der Gefechtsstärken der Divisionen muß mit allen Mitteln gesteuert werden. Abgesehen von dem Bestreben, möglichst bald die Ersatztransporte der Truppe zuzuführen, wird es aber auch darauf ankommen, innerhalb der Divisionen soviel Leute wie irgendmöglich zum Einsatz in der Front zu bringen und die große Zahl der hinter der Front eingesetzten Kräfte der rückwärtigen Dienste zu verringern. jede Truppe, auch wenn sie zu den rückwärtigen Diensten gehört, muß mit dem gleichen fanatischen Willen, sich dort zu verteidigen, wo sie steht, erfüllt werden. Die Ausrede, daß eine Kolonne schutzlos sei, wenn sich keine Infanterie bei ihr befände, darf nicht gelten. jeder einzelne muß sich genauso als Kämpfer fühlen, wie der vorn eingesetzte Infanterist. jede belegte Ortschaft muß zum Stützpunkt werden, für dessen Abwehrbereitschaft ein Kommandant verantwortlich ist. Wenn das der Fall ist, dann wird ganz von selbst hinter der Front eine tiefe Abwehrzone entstehen, in der der Gegner immer wieder zum Kämpfen gezwungen und dadurch aufgehalten wird.

3. Jedes Gelände, das dem Gegner zwangsläufig überlassen werden muß, muß für ihn weitgehend unbenutzbar gemacht werden. Jede Ortschaft muß ohne Rücksicht auf die Bevölkerung niedergebrannt und zerstört werden, um dem Gegner die Unterkunftsmöglichkeit zu nehmen. Das muß vorbereitet sein. Sollte die Zerstörung nicht gelingen, so müssen durch Einsatz der Luftwaffe unzerstört gebliebene Ortschaften nachträglich vernichtet werden. Denn auch der Gegner wird, genauso wie unsere Truppe, bei der Kälte auf Ortschaften angewiesen sein. Für ihn als den Angreifer werden die Schwierigkeiten immer noch größer sein als für unsere Truppe, wenn sie sich in einer leidlich eingerichteten Stellung befindet.

4. Der Gegner wird sich bei seinen Angriffen allmählich verbluten. Er wirft jetzt die letzten verfügbaren Kräfte in den Kampf. Ihre Ausstattung und Bewaffnung mag an einzelnen Stellen sehr gut sein, an den meisten Stellen kämpft er mit schlecht geführten und mit geringen Waffen ausgestatteten Massen. Es liegt daher keinerlei Grund vor, daß die Truppe ihr stets bisher bewiesenes Überlegenheitsgefühl über diesen Gegner verlieren sollte. Im Gegenteil wird es darauf ankommen, überall das berechtigte Selbstvertrauen zu stärken und den Willen zu haben, mit diesem Gegner und den durch die Witterung bedingten Schwierigkeiten fertig zu werden bis ausreichender Ersatz herangekommen und die Front damit entgültig gesichert ist. [ ... ]

 

 


 

 

Zeittafel

1943

13.01. Erlaß Hitlers über den Einsatz der Männer und Frauen für die Aufgaben der Reichsverteidigung
14.-15.
01.
Auf der Konferenz von Casablanca zwischen Roosevelt und Churchill wird die »bedingungslose Kapitulation« Deutschlands gefordert
31.01. -
02.02.
Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad
18.01. Goebbels verkündet im Berliner Sportpalast den »totalen Krieg«
19.04. Beginn des Aufstandes im Warschauer Ghetto
19.05. Berlin wird »judenfrei« erklärt
10.07. Alliierte Landung auf Sizilien

1944

06.06. Invasion der Alliierten in Nordfrankreich
03.07. Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Osten
20.07. Stauffenbergs Attentat auf Hitler
28.11. -
01.12.
Konferenz in Teheran zwischen Roosevelt, Churchill und Stalin
16.12. Beginn der Ardennen-Offensive
25.07. Sturz Mussolinis und das Ende des faschistischen Regimes in Italien

 


Bei der Division

 

Mitte Dezember 1943 wurde ich zu einer Division abkommandiert, um den erkrankten Divisionspfarrer zu vertreten. Einer meiner ersten Dienste war die Begleitung eines zum Tode Verurteilten zur Exekution. Er war noch sehr jung. Gerade vor Weihnachten war er in einem leeren Stall eingesperrt. Ich besuchte ihn und hielt im Stall für ihn und zwei Kameraden, die Arrest hatten, einen Weihnachtsgottesdienst. Er erzählte mir, seine Mutter sei krank, und er habe deshalb ein paar Nächte nicht schlafen können, dann sei er auf Wache gekommen und eingeschlafen. Auf Wachvergehen steht die Todesstrafe. - Wenn ich denke, wie alle jungen Leute immer schlafen können! - Bei der Exekution stand er auf freiem Feld, fünf Meter vor ihm das Exekutionskommando, zehn Kameraden - so war es Befehl. Der Offizier, der die Exekution leitete, fragte ihn nach einem letzten Wunsch. Er bat, sich bei einem Kameraden bedanken zu dürfen. Der betreffende Kamerad gab sein Gewehr seinem Nebenmann, ging hin und gab ihm die Hand, ging zurück und legte mit an.

*

Ich wollte an Weihnachten gleich in die Stellung vor; das wurde aber vom Divisionskommandeur verboten, da höchste Alarmbereitschaft angeordnet war. So konnte ich nur für die Leute beim Divisionsstab einen Weihnachtsgottesdienst halten. Nachdem mir gesagt wurde, daß der Divisionspfarrer erst alle Einheiten der Division besucht hatte, ging ich gleich nach den Feiertagen vor zu einem Regiment, das erst zugeteilt worden war. Ich meldete mich beim Adjutanten. Der sah mich etwas hilflos an und fragte, was ich denn nun eigentlich wolle, ob ich die Offiziere kennenlernen möchte. Als ich ihm sagte, ja, das auch, aber vor allem möchte die Kameraden in den Stellungen besuchen, da sah er mich ganz erstaunt an und sagte, da müsse er mich gleich beim Kommandeur melden. Der Regimentskommandeur, ein Oberstleutnant, sah mich ebenso erstaunt an und sagte ungefähr wörtlich: »Ich war im ersten Weltkrieg an vorderster Front und ebenso in diesem Kriege vom ersten Tage an; aber einen Divisionspfarrer habe ich bei mir vorne in der Stellung noch nie gesehen.«

Nun hatte ich zufällig den Divisionspfarrer der Division, zu der dieses Regiment gehörte, im Lazarett kennengelernt. Er wurde wegen Säuferwahnsinn eingeliefert, stand mit einem Glas Bier auf dem Tisch, als ich ihn besuchte, und hielt Reden. Aber daß ein Offizier, der ungefähr sieben Jahre an der Front war, nie einen Kriegspfarrer in der vordersten Stellung gesehen hat, das konnte ich nicht begreifen. Ich weiß von vielen Divisionspfarrern, die in vorderster Stellung gefallen sind. Freilich, es gab in diesem Kriege viel zu wenig Kriegspfarrer, denn seit 1942 (ich glaube, es war dieses Jahr) wurden keine mehr ernannt, und es fielen viele aus. Für mich war das eine besondere Verpflichtung, die Kameraden in den Stellungen zu besuchen.

Bei Tage konnte ich das nicht, denn da mußten die einen auf ihren Posten sein und die anderen schliefen. Außerdem waren die Stellungen vom Feind eingesehen. So ging ich jede Nacht von Eintritt der Dunkelheit an bis zum ersten Morgengrauen durch die Stellungen. Mein 'vorgeschobenes' Quartier hatte ich in der Nähe des Verbandsplatzes, und ich fuhr mit einem zweirädrigen Karren zu den Stellungen. Überall hatte es sich schon herumgesprochen, daß der Pfarrer die Stellungen besuche und überall wurde ich freundlich empfangen. Entweder ging ich durch den Graben von einem zum anderen oder es wurde eine kleine Gruppe in einem Bunker versammelt. Da kniete ich dann - stehen konnte ich wegen des beißenden Rauches des Kanonenofens nicht - im Kreis der Kameraden, redete mit ihnen und hielt eine kurze Andacht. Manchmal stritten sie sich, wer mich zur nächsten Stellung führen durfte. Mancher hat mir auf dem Wege in eisiger Winternacht sein Herz ausgeschüttet. Wo ich auch war, von Begeisterung habe ich nichts mehr gesehen, nur noch Sorge und Angst, was werden wird.

Einmal traf ich auf einer Waldschneise die Essenträger der verschiedenen Stellungen, die auf die Feldküche warteten, die sich verspätet hatte. Es war Mitternacht, und ich hielt einen kurzen Gottesdienst. Ich fragte nach einem Lied, das alle kannten. Sie kannten alle nur eines: »So nimm denn meine Hände.« Wir sangen es nur leise, denn der Feind war nicht weit weg. So kann auch ein solches Lied, »das man heute nicht mehr singt«, seinen Dienst tun, so wie im Lazarett, wo ich immer wieder darum gebeten wurde.

Auch hier bei der Division mußte ich wieder erfahren, wie gefährlich es ist, wenn man nicht jedes seiner Worte vorher genau überlegt. Einige Kameraden sagten mir, sie hätten Angst, wenn die Front auf einmal zurückverlegt würde. Sie könnten doch in dem bei dieser Kälte so tief gefrorenen Boden keine Stellungen graben. Ich beruhigte sie und sagte, die Stellungen seien schon gebaut. Ich dachte mir überhaupt nichts bei dieser Bemerkung. Da wurde ich nicht lange darauf zum Regimentskommandeur gerufen, und der sagte mir, er müsse mich eigentlich vor ein Kriegsgericht stellen. Wie ein Lauffeuer sei es durch die Stellungen gegangen, daß ich gesagt habe, es seien weiter hinten schon Stellungen gebaut; also stehe der Rückzug bevor. Das sei Zersetzung der Wehrkraft und Schwächung des Kampfgeistes der Truppe. Darauf stand die Todesstrafe. Es blieb bei der Verwarnung dank des Wohlwollens des Kommandeurs. -

Wenn ich in der Morgendämmerung heimkam, betätigte ich mich erst einmal als Insektenfänger. Kleiderläuse und Flöhe brachte ich jede Nacht in Massen mit. Ich bekam auch darin bald eine Routine, nur wie die Landser sonst, zwischen Daumennägeln, nein, das brachte ich nicht fertig. Ich machte es mit Pinzette und Kerze.

Nachmittags war ich dann auf dem Verbandsplatz, wo bis zu zweihundert Verwundete lagen. Viele, die einen 'Heimatschuß' bekommen hatten, waren froh und vergnügt, hofften sie doch alle, der Krieg sei zu Ende bis zu ihrer Genesung. Für die anderen, die nach ein paar Tagen wieder in die Stellung mußten, war es besonders schwer. Einen Leutnant aus Wien habe ich beerdigt, der an der gleichen Stelle, an der ich ihn am Tage vorher fotografiert hatte, durch einen russischen Scharfschützen einen Kopfschuß bekam.

Auch auf dem Verbandsplatz spielte ich auf meiner Trompete, und ein paar Mal erzählten mir dann die Soldaten in der Nacht, wenn ich durch die Stellungen ging, daß sie mich gehört hätten. - Erwähnen möchte ich noch, daß ich mich mit den Ärzten auf beiden Hauptverbandsplätzen besonders gut verstand.

Ein schweres Erlebnis noch: Viele Verwundete auf dem Hauptverbandsplatz. Sie lagen auf Tragen vor dem 'Operationssaal', einer Panjehütte, wo zwei Ärzte stundenlang ununterbrochen operierten. Ich ging von einem zum andern, half, wo und soweit ich helfen konnte, gab zu trinken oder schrieb ein paar Worte an Angehörige. Da bat mich ein Verwundeter ganz dringend, doch dafür zu sorgen, daß er drankomme. Er habe einen Bauchschuß und wisse als Medizinstudent, daß er sterben müsse, wenn er nicht sofort operiert werde. Ich redete mit dem Arzt, er wußte schon davon; aber er sagte mir, die Verwundung liege schon so viele Stunden zurück, daß nur noch wenig Aussicht bestehe, den Mann durchzubringen. Dagegen seien andere mit Bauchschüssen da, die erst kurz vorher verwundet worden seien und bei denen eine Operation noch möglich und das Leben zu retten sei. Die müsse er zuerst drannehmen. Furchtbar eine solche Entscheidung, und doch nicht anders möglich. Ich vertröstete den Medizinstudenten und blieb bei ihm, bis er bewußtlos wurde, was glücklicherweise bald der Fall war. -

Ende Januar kam der Befehl zum Rückzug. Generalfeldmarschall Schörner gab den Befehl zu spät, genau in dem Augenblick, als Tauwetter eintrat und der Boden aufweichte zu einem tiefen Morast. Alle Motorfahrzeuge versanken; achthundert sollen es bei der Division gewesen sein. Der Kfz.-Offizier, ein Hauptmann, ließ sich zuletzt noch mit seinem VW von zwei Pferden ziehen, bis sie es auch nicht mehr schafften. Auch der nagelneue Mercedes mit den blauen Samtbezügen, der den beiden Divisionspfarrern zur Verfügung stand, mußte mit Benzin übergossen und angezündet werden. Ich konnte nur mitnehmen, was ich tragen konnte. Auch meine Trompete, die auf einen LKW verladen worden war, ging verloren. Aber meine liebe Frau hatte schon eine neue bereit und schickte sie mir.

Da der Rückzug wegen des Schlammes so langsam vor sich ging, waren wir plötzlich eingeschlossen. Panzer schlugen eine Gasse, durch die wir herauskamen; aber die vielen, vielen Toten, die überall herumlagen!

Bald darauf kam der Divisionspfarrer zurück, und mein Einsatz bei der Division war zu Ende.



 

Am Militärgefängnis

 

»Ein Kriegspfarrer! Ja, Sie kommen mir ja wie vom Himmel geschickt. Die ganze Umgebung such ich ab, alle Standorte rufe ich an, nirgends ein Pfarrer aufzutreiben, und nun kommen Sie!« So wurde ich noch bei keiner Stelle empfangen, und ich wollte doch nur einen Quartierschein. Warum hat man hier so Sehnsucht nach einem Pfarrer? Bevor ich mich von meinem Staunen über den freudigen Empfang durch den Hauptfeldwebel der Standortkommandantur erholt hatte, erfuhr ich den Grund der Freude: »Morgen früh um sechs Uhr haben wir eine Exekution, und da brauchen wir einen Pfarrer; melden Sie sich gleich beim Kommandanten des Militärgefängnisses!« So war das also, dazu brauchte man einen Pfarrer, da konnte niemand ihn ersetzen.

Ich suchte schnell mein Quartier, stellte mein Gepäck ab und ging ins Gefängnis. »Militärgefängnis Dubno« las ich, als das schwere eiserne Tor sich auftat. Es war ein Militärgefängnis der Heeresgruppe Süd, früher in Dubno, jetzt in Tarnow. Ich meldete mich beim Kommandanten, sah die Akten an und machte mich auf den Weg. Noch ein paar eiserne Gittertore, und ich war drinnen. Anscheinend sind die Gefängnisse nach einem internationalen Plan gebaut. Ich hatte das gleiche in Frankreich gesehen und das gleiche in Weiden, wo ich 1933 drei Tage eine Zelle 'bewohnen' durfte. Links und rechts vom Gang ein eisernes Gitter bis hoch an die Decke, dahinter die Laufgänge mit den Türen zu den Zellen. Vom Eingang aus kann man sämtliche Zellentüren überblicken.

Ich ließ mir die Zelle des Todeskandidaten zeigen, ging aber zuerst in ein paar andere Zellen. Ich habe das in der Folgezeit immer so gemacht. Es sollte durch meinen Besuch nicht bekannt werden, daß eine Exekution bevorstand. Es genügte meiner Ansicht nach, wenn es der Betreffende zwei Stunden von der Hinrichtung erfuhr.

Als ich in die erste Zelle kam, erschrak ich. Ungefähr zwei mal vier Meter groß, an der Stirnseite unter dem kleinen vergitterten Fenster mit dem Blech davor, das jede Aussicht versperrte, eine Doppelpritsche. An der Längsseite eine einfache Pritsche (alle aus Holz), anschließend in der Ecke links neben der Tür der Kübel für die Notdurft. Rechts an der Wand ein kleines Tischchen mit zwei Hockern. Eine Zelle für zwei Mann, und als ich hineinkam, sprangen acht Mann auf. Zwei konnten auf den Hockern sitzen, die anderen auf den Pritschen. Drei konnten auf den Pritschen schlafen, die anderen auf dem Boden, die Füße unter der einen Pritsche. Sie durften nicht rauchen, nicht lesen, nicht schreiben, außer, ich glaube jede Woche einen Brief, der natürlich zensiert wurde; eine Stunde durften sie im Hof im Kreise gehen. Einen habe ich getroffen, der war ein Jahr in Untersuchungshaft, weil seine Papiere bei den ständigen Frontverlegungen nicht beizubringen waren. Er sagte mir, er sei fast verrückt geworden. Das Essen war sehr kärglich, satt konnte keiner werden.

Acht Mann also sprangen auf, und einer machte Meldung. Ich winkte natürlich sofort ab, stellte mich vor und sagte mein Sprüchlein, das ich schon so oft gesagt hatte, auch in den Lazaretten, wenn man fragend auf meine Uniform sah: »Der Führer und seine Pfarrer tragen keine Schulterstücke.« (Einmal hat mich ein Feldwebel auf der Straße angeredet: »Herr Leutnant, entschuldigen Sie, Sie haben Ihre Schulterstücke vergessen.«)

Ich bin zutiefst erschrocken, als ich das alles sah, nicht nur über die menschenunwürdigen Verhältnisse - die Notdurft durften sie nur hier verrichten! - nein, ich bin auch erschrocken bei dem Gedanken: Das also ist dein Arbeitsfeld! Denn das wußte ich sofort: Wenn die Arbeit im Lazarett schwer war und die Arbeit bei der Division, hier wird sie sehr, sehr schwer sein. Und sie wurde schwer, manchmal fast zu schwer. Und nun muß ich vielleicht doch berichtigen, was ich ein paar Seiten vorher geschrieben habe, vielleicht wurde mein Dienst doch hier am dankbarsten angenommen. Sie hatten sonst keinen Menschen, mit dem sie reden konnten, dem sie auch einmal einen Gruß auftragen konnten, wenn mir das auch streng verboten war, dem sie ihr Herz ausschütten konnten, der sie nicht als Verbrecher ansah oder gar anredete.

Im Hauptamt war ich weiter Lazarettpfarrer, aber das Lazarett war nur schwach belegt, so daß ich die meiste Zeit im Gefängnis verbringen konnte. Es waren fünf- bis sechshundert Insassen, lauter deutsche Soldaten, davon etwa fünfzig zum Tode Verurteilte, die auf die Hinrichtung oder die Begnadigung warteten. Ich will es gleich sagen, es waren sehr, sehr wenige, die begnadigt wurden. Einmal kam mir ein ganz Junger auf dem Gang entgegen. Freudestrahlend rief er aus: »Herr Pfarrer, ich bin begnadigt ... zu zehn Jahren Zuchthaus.« Ach, der Arme! Zuchthaus bedeutete meist Strafkompanie, und Strafkompanie bedeutete fast immer Tod. Ich kenne keinen Kriegsteilnehmer, der die Strafkompanie überlebt hat, ausgenommen den einen, von dem ich schon erzählt habe, der den rechten Arm verloren hatte. Von einem weiß ich, daß er begnadigt wurde - ein Leutnant. Ich habe für ihn an seinen Ortsgruppenleiter geschrieben, der ist zum Kreisleiter usw., bis es vor den Führer gebracht worden ist.

Immer wieder wurde ich auch gebeten, an die Schwester des Führers zu schreiben. Ich wußte vorher gar nicht, daß er eine Schwester hatte. Ich habe geschrieben, kein Brief kam zurück. Einmal wurde einer begnadigt, für den ich dorthin geschrieben hatte; ich weiß nicht, ob auf diesen Brief hin. -

Die Gerichtsoffiziere hatten manchmal Tränen in den Augen, wenn sie nach einer Exekution sagten, sie hätten alles getan, um eine Begnadigung zu erreichen, aber immer komme zurück: »Begnadigung abgelehnt.« Das waren die großen Herren Generale, die (nach dem Krieg!) »nur auf Befehl« gehandelt haben.

Was hatten sie verbrochen? Die meisten Fahnenflucht. Ganz junge Kerle waren es meist, die die Nerven verloren haben, wenn der Feuerhagel zu schlimm wurde. Siebzehneinhalb Jahre war der Jüngste alt, der hingerichtet worden ist.

Ein Kapitänleutnant, zum Schützen degradiert, Strafkompanie. Strafkompanie, das muß ich zwischenhinein erwähnen, war wie ein Todeskommando. Sie hatten keine Waffen, wurden geschlagen, bekamen wenig zu essen; achtzig Pfund wogen die vier, von denen ich schon erzählt habe. Sie mußten gefährliche Aufträge erfüllen, vor allem Minen räumen. Wenn sie vom Feind eingesehen wurden, wurde auf sie geschossen. Wenn sie überlaufen wollten, wurden sie von hinten erschossen. Oft traten sie auf Minen und starben. Für andere Minen hat man abgerichtete Hunde eingesetzt, die man beschwerte, daß sie so schwer waren wie ein Mensch.

Ein Feldwebel hat zu viel getrunken und etwas von der Verpflegung, die ihm anvertraut war, für sich genommen. Er weint, als er erzählt, daß er noch nie etwas Strafwürdiges getan habe und daß seine Frau ihm von dem einjährigen Kind schreibe, das blind sei und sich nun ständig stoße, nachdem es anfange zu laufen.

Ein Leutnant, zum Tode verurteilt, später begnadigt: War bei der Artillerie, bei der Beobachtungsstelle hinter der Batteriestellung. Die Russen griffen von der Seite an, brachen zwischen ihm und der Geschützstellung durch, die Kanoniere liefen davon ohne die Geschütze unbrauchbar zu machen. Führerbefehl: »Wer ein Geschütz unbeschädigt dem Feind überläßt, wird mit dem Tode bestraft.« (So wenigstens hat es mir der Leutnant zitiert.)

Ein Zahlmeister hat ein paar Packungen Zigaretten unberechtigterweise an das Offizierskasino gegeben.

Eine Einheit kommt zurück in Ruhe in ein Dorf in Rußland oder Polen. Ein Soldat dringt in ein Haus ein, will die Frau vergewaltigen. Sie wehrt sich; er führt sie in den Garten hinaus, läßt sie eine Grube schaufeln und erschießt sie. Dann nimmt er die Tochter, die dabei sein mußte, droht ihr mit dem gleichen Schicksal, wenn sie ihm nicht zu Willen sei. Sie gibt sich ihm hin, trifft dann einen deutschen Offizier auf der Straße und erzählt ihm den Vorgang. Der Soldat wird zum Tode verurteilt. Vor seiner Hinrichtung schimpft er nur über Hitler, daß er solche Gesetze zulasse; aber war nicht auch Hitler mit schuld, für den die Menschen im Osten Untermenschen waren?

Werner ... War auf Urlaub, sollte von dort zum Offizierskurs, blieb noch bei seiner Braut. Strafkompanie, Flucht.

Horst ... 21 Jahre, Waisenkind mit zwei Jahren, Päckchenraub (hatte selbst keins bekommen).

Gr. ... hat vier Kinder, zuerst verurteilt wegen Notzucht, dann von Strafabteilung geflüchtet.

Hermann ... Selbstverstümmelung. Schuß durch Arm, hofft auf Heimaturlaub und Beförderung, hat Braut, von anderem Mädchen ein Kind von drei Jahren. Bauer, Tischler und Zimmermann. Will Hl. Abendmahl. - Es war Führerbefehl, daß einer, der Selbstverstümmelung verübt hat, zuerst gesund gepflegt werden müsse und dann erst hinzurichten sei. So war es auch bei diesem; er mußte monatelang auf seine Hinrichtung waren.

Ein Kriegspfarrer erzählte mir, daß einem das Bein abgenommen, dann nachamputiert wurde, und er nach vollkommener Heilung mit Krücken zum Hinrichtungsplatz habe gehen müssen. Ein katholischer Kollege fragte mich einmal, was ich meine: Ein Verwundeter habe ihm gebeichtet, daß er sich die Verwundung selbst beigebracht habe, ob er nun die Rente annehmen dürfe? Der Kollege sagte ihm, daß er die Rente annehmen dürfe, weil er sich sonst selbst verriete, daß er sie aber nicht für sich verwenden dürfe, sondern guten Zwecken zuführen müsse.

Paul ... Unteroffizier, EK I, auf Rückfahrt vom Urlaub sich einer Kolonne angeschlossen, plötzlich allein gelassen, Kolonne waren Partisanen. Wegen Fahnenflucht und Bandenverbindung zum Tode verurteilt. (Das konnte ich nicht nachprüfen.)

Hermann ... gottgläubig, Mutter früh gestorben, wurde wegen Wachvergehen 1939 zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt (vorgeschriebene Route abgekürzt). Strafabteilung. Wegen Behandlung geflohen. Fahnenflucht.

Günter ... 20 Jahre alt, Matrose, am Atlantikwall eingesetzt, steigt verbotenerweise auf einen Hügel, unter dem ein Geschütz verborgen war, wird vom wachhabenden Offizier sofort verhaftet, zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, kommt zur Strafabteilung, wird geschlagen, beschwert sich, Beschwerde zerrissen, wird wieder geschlagen, flieht, nachdem seine Bitte, mit dem Kommandeur sprechen zu dürfen, abgelehnt worden war. Wird verhaftet, ein anderer verführt ihn noch einmal zur Flucht. Der andere wird standrechtlich erschossen, er zum Tode verurteilt wegen Fahnenflucht.

Den letzten Brief der Mutter kurz vor der Hinrichtung erhalten. Der Vater ist, so sagte mir Günter, Corvettenkapitän a. D., Arbeitsdienstführer (und Stadtkommandant einer westdeutschen Stadt).

20.6.44

Lieber Günter!

Deinen Brief vom 23. erhielten wir heute. So lange keine Post und nun diese Nachricht. Stunden grübeln wir schon, was nun werden soll. Vater läßt keine Hoffnung. Genau kennt er die harten Gesetze. Die Sorge um Dich und seine Stellung (!) läßt ihn fast verzweifeln. Oftmals wagt niemand, Deinen Namen auszusprechen, um nicht an die Sorge zu erinnern, die wir um Dich trugen und tragen. Wie anders könnte alles sein! - An den Führer Deiner alten Feldpostnummer wandte ich mich. Vor 14 Tagen bekam ich Antwort und mußte mir selbst eingestehen, wie glücklich ich war, zu hören, daß Du noch lebst, doch im Gefängnis. Ja, das ist schwer, auch für uns, und Du hättest es verhüten können. Wärst längst einmal zu Hause gewesen. Wie oft sprechen wir davon, sehnten den Tag herbei. So sind 2 Wochen verflossen, und wer weiß, wie es nun wird. ... (Folgen ein paar Nachrichten von Bekannten, dann:) Die Welt ist voll Leid und Kummer, und uns drückt das Schicksal, einen ungeratenen Sohn zu haben. In Deiner Hand lag alles, Dein hartes Los zu ändern. Im Gefängnis gibt es nur Pflichten und keine Rechte. Das mußtest Du eher überlegen und hättest Dir und uns die Schande ersparen können, und wer weiß, ob nicht eines guten Tages das harte Urteil gefällt und ausgeführt wird, das Dich auslöscht und uns lebenslänglich begleitet. Günter, niemand wünscht mehr als ich, daß sich alles zum Guten wenden möge. Wie sind in Gedanken bei Dir und grüßen Dich herzlichst

Deine Eltern

Am Rand des Briefbogens: Günter, auch von mir einen Gruß. Ich hoffe, daß es nicht der letzte sein muß. Tun kann ich nichts mehr für Dich.

Dein Vater

In einem späteren Brief hat die Mutter mir dann mitgeteilt, daß der Vater doch ein Gnadengesuch eingereicht habe. Es kam zu spät oder wurde abgelehnt. - Von der Exekution später.

Tag für Tag war ich im Gefängnis, oft auch am Abend, damit es nicht auffiel, wenn ich am Vorabend einer Exekution kam. Ich hatte die Erlaubnis, mit den Gefangenen zu rauchen, was sie sonst nie durften. So habe ich überall Rauchwaren zusammengebettelt und dann eben eine Zigarette oder ein Zigarillo angeraucht und weitergegeben. Fast alle baten mich, an die Angehörigen zu schreiben und die Antwort zu überbringen. Wieder habe ich meine Stellung riskiert und getan, was strengstens verboten war. Herzzerreißende Briefe bekam ich. Ich habe mehrere aufgehoben und noch einmal gelesen (1975) und vernichtet. Die Angehörigen, auch einige Bräute, haben geschrieben, konnten es einfach nicht glauben, daß ihr Mann oder Sohn oder Bräutigam etwas getan habe, was ihn ins Gefängnis brachte oder gar das Todesurteil zur Folge hatte. Nur ein paar Frauen schrieben ganz gemein, eine ordinär, sie habe längst einen anderen, bei dem alles viel schöner sei. Die Braut des einen, der wegen Mordes an der Polenfrau und wegen Notzucht zum Tode verurteilt worden war, beschwor mich, ihr doch Näheres zu schreiben. Sie schilderte ihren Bräutigam als einen so ganz lieben Menschen und konnte nicht glauben, daß er wirklich schuldig war. Ich habe mir lange überlegt, was ich tun solle, habe ihr dann aber die Wahrheit geschrieben, weil ich glaubte - und ich glaube es auch heute noch - daß ihr dann alles leichter fallen würde.

Einmal schrie aus einem Fenster im obersten Stockwerk, in einem anderen Trakt des Gefängnisses, laut ein Mann: »Der Kriegspfarrer soll kommen«! Er warf einen Zettel in einer kleinen Brotkugel zusammengeknüllt auf den Hof, wo gerade ein Trupp im Kreise ging, auf dem das gleiche stand. Ich bekam die Erlaubnis, den Mann zu besuchen, obwohl er in dem Teil des Gefängnisses untergebracht war, wo die Zivilgefangenen waren und wo ich eigentlich keinen Zutritt hatte. Ich weiß nicht mehr, warum er dort untergebracht war. Er hatte sich bei einer polnischen Familie aufgehalten - vielleicht waren es Partisanen - und wurde dort verhaftet. Ich ging in die Zelle, er saß auf einem Schemel, die Hände mit einer Kette aneinandergefesselt. Es gibt Bilder, die sich so tief im Herzen einprägen, daß man sie sein Leben lang nicht auslöschen kann. Ich sehe den Mann so deutlich vor mir, als wenn alles erst gestern gewesen wäre. Er beschwor mich und bettelte, ich möchte ihm doch helfen, er sei doch unschuldig. Ich habe alles versucht, habe aber nichts erreicht. Er unterstand der Gerichtsbarkeit der deutschen Zivilverwaltung, und diese Herren wollten mit einem Kriegspfarrer nichts zu tun haben. Er wurde dann bald darauf mit Polen zusammen hingerichtet.

Immer, wenn ein Attentat auf einen Deutschen verübt wurde, wurden zehn Geiseln erschossen und wahllos wieder zehn Polen verhaftet. -

Im großen Gang im Parterre habe ich meine Gottesdienste gehalten; fast alle sind sie gekommen. Nie war der Gesang so mächtig wie hier. Für vierhundertfünfzig reichten natürlich meine Feldgesangbücher nicht aus, aber sie sahen zusammen hinein und sangen mit, auch die Katholiken. An eine Abendmahlsfeier erinnere ich mich besonders, die ich nach einem Gottesdienst gehalten habe. Ein paar Hundert waren es, die dablieben und als Erster ging mit ein paar Gefangenen zusammen der Kommandant des Gefängnisses an den Tisch, den ich als Altar gerichtet hatte. Ich habe die Choräle mit meiner Trompete begleitet, aber die hörte man bei diesem Gesang nicht mehr. - Oft am Abend spielte ich im Gang auf meiner Trompete, und immer wieder wurde mir gesagt, wie sich alle darüber freuten, bis mir der Kommandant (es war jetzt ein anderer) sagte, das sei gegen die Vorschrift, nach der alles 'Lärmen' verboten sei.

Ein katholischer Kriegspfarrer tat eine Zeitlang zugleich mit mir Dienst im Gefängnis, bis ihn alle geschlossen ablehnten. Er redete sie als Verbrecher an; einen solchen Pfarrer wollten sie nicht. Einige zum Tode Verurteilte sagten, sie wollten lieber allein sterben als mit seinem Beistand. Einer verlangte früh um vier Uhr, als ihm eröffnet wurde, daß das Urteil um sechs Uhr vollstreckt werde, nach mir, obwohl er Katholik war. Aber da war der katholische Kollege schon da, und ich konnte nicht mehr so schnell verständigt werden. Das tat mir leid, und ich habe auf viele Bitten hin erwirkt, daß von jetzt an mein Freund Breinbauer diesen Dienst tun durfte. Oft sind wir in der Morgenfrühe miteinander ins Gefängnis gegangen, um unseres schweren Amtes zu walten. Er war der einzige von den katholischen Kollegen, die ich getroffen habe, mit dem ich, was unseren Dienst anbelangte, ganz eins gewesen war.

*

Ich komme in eine Zelle mit acht Mann. Es war gleich am ersten oder zweiten Tag meines Dienstes im Gefängnis; und damit komme ich an den Anfang meines Berichtes zurück. Da sagte einer ungefähr folgendes, nachdem ich mich vorgestellt hatte: »Herr Pfarrer, ich bin Kommunist. Ich habe die Konsequenzen gezogen und bin aus der Kirche ausgetreten; aber ich werde Ihnen in keiner Weise hinderlich sein. Reden Sie mit den jungen Kameraden, sie werden es vielleicht brauchen.« Er war fünfzig Jahre alt, war wegen seiner kommunistischen Tätigkeit eingesperrt worden, wurde aber dann entlassen, weil er sich bereit erklärte, an die Front zu gehen, allerdings unter der Bedingung, nicht im Osten eingesetzt zu werden, da er nicht gegen die Russen kämpfen werde. Er kam an die russische Front, war auf Posten und sagte dem Wachhabenden, er werde nicht schießen, wenn die Russen angriffen. Daraufhin wurde er verhaftet, vor das Kriegsgericht gestellt und zum Tode verurteilt.

Nach einigen Wochen - ich war oft in seiner Zelle, er hat sich immer vollkommen ruhig verhalten - bat er mich, mit mir sprechen zu dürfen. Ich nahm ihn mit hinaus auf den Gang, und er sagte nun - ich glaube, ich weiß es noch wörtlich -: »Herr Pfarrer, ich habe Ihnen gesagt, wie ich stehe, ich habe meine Meinung noch nicht geändert, aber nun denken Sie: Früh um vier Uhr hört man Schritte auf dem Gang. Alle acht in der Zelle schrecken auf und starren auf die Tür. Der Schlüssel wird ins Schloß gesteckt, und der Wachsoldat kommt herein. Alle starren nur auf ihn, wen wird er rufen? Und der eine, den er ruft, steht auf, gibt jedem die Hand und verschenkt die paar Kleinigkeiten, die er hat, und geht mit. Wir alle wissen, daß er nicht mehr zurückkommt. Sehen Sie, Herr Pfarrer, das habe ich jetzt acht Mal erlebt! Ich weiß nicht, ob ich durchhalten kann, wenn ich gerufen werde. Ich bitte sie, gehen Sie mit mir, wenn so weit ist.« Selbstverständlich habe ich es ihm versprochen. Es ist nicht so weit gekommen, das Gefängnis wurde verlegt. Ich kam an einen anderen Standort. Aber nach einigen Wochen bekam ich eine Karte von ihm, daß er noch einmal zur Frontbewährung begnadigt worden sei. Ich habe mich nach dem Kriege in seiner Heimatstadt erkundigt, aber nichts über ihn in Erfahrung bringen können. -

Und nun zum Schwersten, was ich erlebt habe.

[Weiter im Text]


Anordnung zur Vollstreckung eines Todesurteils 

Kopie des Original-Durchschlages: Seite 1 / Seite 2

Abschrift

Gericht                   Tarnow, den 26. Mai 1944.
der Oberfeldkommandantur 226
R.H.L. 112/44

       

       Vollzug der Todesstrafe an
           1.) Obergefr. ...
               4./Gren.Regt. ...
               geb. 1918 in ..., Krs. N.
           2.) Gefreiter ...
               5./Gren.Regt. ...
               geb. 1923 in ..., Krs. E.


1.) Gemäss Urteil des Gerichts der 3o6. Inf.Div. vom 15.1.1944 ist der Obergefr. K.S. wegen Fahnenflucht zum Tode und zur Wehrunwürdigkeit verurteilt. Der Oberbefehlshaber der 6. Armee hat dieses Urteil bestätigt und einen Gnadenerweis abgelehnt. Zugleich ist die Vollstreckung angeordnet.

2.) Gemäss Urteil des Gerichts der 3o6. Inf.Div. vom 24.1.1944 ist der Gefreite H.E. wegen Fahnenflucht zum Tode und Wehrunwürdigkeit verurteilt. Der Oberbefehlshaber der 6. Armee hat dieses Urteil am 1.3.1944 bestätigt und einen Gnadenerweis abgelehnt. Zugleich ist die Vollstreckung angeordnet.

3.) Die Vollstreckung findet am 27. Mai 1944, 6.oo Uhr statt. Ort: Standortschiessplatz Tarnow.

4.) Leiter des Verfahrens ist Major N., Oberfeldkommandantur 226, Tarnow, der auch für die rechtzeitige Absperrung des Geländes, den Transport der Verurteilten zum Richtplatz, zu sorgen hat.

5.) Das Vollzugskommande stellt das Kriegswehrmachtsgefängnis Dubo in Tarnow, dazu einen Dienstgrad mit geladener Pistole, der nötigenfalls einen Nahschuss abzugeben hat. Zugleich sind die Absperrmannschaften zu stellen, wie sie für jedes Scharfschiessen gestellt werden.
Der Führer des Vollzugskommandos und der Absperrmannschaften meldet die Aufstellung und Vollzug der Absperrung um 5.45 Uhr.

6.) Die Truppenstandortkommandantur Tarnow veranlasst Transport der Särge zum Richtplatz (mit Nägeln, Hammer und Holzwolle).

7.) Die Überführung der Verurteilten zum Richtplatz übernimmt verantwortlich das Kriegswehrmachtsgefängnis Dubno in Tarnow. Abfahrt mit den Verurteilten so rechtzeitig, dass sie um 5.55 Uhr auf dem Richtplatz eintreffen.

8.) Der Hauptmann S., Kr.Wehrm.Gef.Dubno in Tarnow (oder dessen Vertreter) wird ersucht, den beiden Verurteilten um 4.oo Uhr die Urteilsbestätigung, Vollzugsanordnung und die Ablehnung des Gnadenerweises bekanntzugeben, mit dem Hinzufügen, dass das Urteil um 6.oo vollstreckt wird.

9.) Als Geistliche werden die Kriegspfarrer Leonhardt und Breinbauer. Kr.Laz.3/685, gebeten, teilzunehmen. Sie werden um 4.oo Uhr im Kriegswehrmachtsgefängnis Dubno in Tarnow erwartet. Sie bleiben bei den Verurteilten und fahren mit diesen, wenn sie es wünschen, zum Richtplatz.

10.) Als richterlicher Militärjustizbeamter nimmt der Hauptmann Dr. B. teil, der dem Verurteilten die Urteilsformel und Bestätigungsverfügung vor dem Vollzug auf dem Richtplatz nochmals bekanntgibt.

11.) Das Kriegswehrmachtsgefängnis Dubno in Tarnow stellt den Sanitätsoffizier sowie die Sanitätsmannschaft, die sich gleichfalls 5.45 Uhr bei dem Leiter der Verfahrens melden.

12.) Für die Überführung der Leichen und anschliessender Beerdigung sorgt die Truppenstandortskommandantur Tarnow. Jeder Leiche ist eine Flasche beizugeben, in die ein Zettel mit folgender Aufschrift beizulegen ist:
Name, früherer Dienstgrad, Regt. bezw. Einheit mit dem Hinzufügen: Erschossen auf Grund des Urteils des Kriegsgerichts der 3o6. Inf. Division.

13.) Vollzug ist zu melden.




Zugl.f.d.Gerichtsherrn:


[Unterschrift]


Hauptmann als Heeresrichter kr.A.


Verteiler:
1.) Leitender Offizier
2.) Kriegspfarrer
3.) Kr. ehrm.Gef.Dubno, Tarnwo
4.) Truppenstandortskommandantur, Tarnow
5.) f.d.Akte.

 

 


Es war beim ersten Todeskandidaten so, wie dann bei allen anderen. Es waren ungefähr dreißig, die ich begleitete. Bei der deutschen Wehrmacht ging alles nach der HDV, der Heeresdienstvorschrift. Bis auf die kleinste Kleinigkeit war alles festgelegt. (Vgl. den Vollstreckungsbefehl) Am Vortage erhielt ich den Befehl ausgehändigt, am Abend ging ich ins Gefängnis, wie gesagt, zuerst in einige andere Zellen, dann in die, in der Betreffende war und blieb dort wohl ein wenig länger, aber nicht so lange, daß es auffiel.

Es war Vorschrift, daß dem zum Tode Verurteilten spätestens zwei Stunden vor der Vollstreckung das Urteil mitgeteilt werden müsse. Ich war mit dem Gericht mit diesem letzten Termin einverstanden. Anderswo wurde es am Abend vorher mitgeteilt (s. Goes: Unruhige Nacht). Einige Minuten vor vier Uhr war ich im Gefängnis und wartete in einem Zimmer auf den Todeskandidaten (das ist kein schönes Wort, aber ich weiß nicht, wie ich sonst schreiben soll). Der Kommandant des Gefängnisses - umgeschnallt und Stahlhelm - las das Urteil noch einmal vor und sagte dann: »Das Gnadengesuch ist abgelehnt, das Urteil wird um sechs Uhr vollstreckt. Der Herr Kriegspfarrer wird bei Ihnen bleiben und Sie zur Hinrichtungsstätte begleiten.« Wir setzten uns, ein Wachsoldat stellte einen Teller mit Brot und Wurst auf den Tisch und ging wieder. Ich wußte, daß er vor der Tür Wache stand. - Von den Minuten, die nun folgten, will ich schweigen. ...

Dann fragte ich, immer nur ganz zaghaft, ob er - manchmal waren es auch zwei - nicht etwas essen wolle. Ein Englischlehrer, der oft mit uns in der Abiturklasse über alles mögliche sprach, sagte einmal: »Wenn Ihnen einer sagt, daß Sie in einer Stunde sterben werden, werden Sie keinen Bissen mehr essen können.« Wir dachten damals, eine solche Binsenweisheit bräuchte er uns nicht zu sagen. Vielleicht meint das auch jeder, der diese Zeilen liest. Aber ... sie haben fast alle gegessen, nicht viel, aber doch etwas. Nun muß man sich vorstellen: Ein Mensch bekommt wochenlang oder monatelang nur das Allernötigste zu essen. Er hat immer Hunger; da wird der Urtrieb des Menschen immer größer, er will nur essen, nur essen. Und nun steht da auf einmal vor ihm, was er seit langem nicht mehr gesehen hat: ein Teller voll Wurst!

Ich will nichts mehr weiter sagen, ich war froh, daß sie etwas aßen. Ich war auch froh, wenn einer, der Raucher war, nun eine Zigarette nahm. Dann fragte ich sie, ob sie noch wenigstens ein paar Worte an die Angehörigen schreiben wollten. Einige taten es, einige trugen mir auf, was ich schreiben solle, wieder andere schwiegen. Über das, was wir dann miteinander redeten, brauche ich wohl nichts zu sagen. Nur von einem: Als ich den Namen Jesus erwähnte, sagte er, von Jesus wisse er nichts. Er sei als kleiner Bub an einen Onkel gegeben worden, der habe gesagt, er solle einmal selbst entscheiden, ob er zur Kirche gehören wolle oder nicht; er habe deshalb keinen Religionsunterricht besucht. Dann sei er zur Hitlerjugend gekommen, zum Arbeitsdienst und zum Militär. Ich habe angefangen mit dem Wort Jesu am Kreuz: »Wahrlich, wahrlich, ich sage Dir, heute wirst mir mit im Paradiese sein.« - Ganz zuletzt, einen Augenblick vor seinem Ende, nachdem ich das kurze Gebet wie mit allen anderen gesprochen hatte, drückt er nochmal ganz fest meine Hand und sagte: »Herr Pastor, ich glaube, was Sie mir gesagt haben.« Ich dachte an das Wort Jesu von den Arbeitern im Weinberg, die in der elften Stunde in den Weinberg kamen.

Mit einigen habe ich das Heilige Abendmahl gefeiert, mit allen konnte ich es nicht. Ich mußte immer heimlich auf die Uhr schauen, denn um dreiviertel sechs Uhr klopfte es an die Tür und das bedeutete, daß es Zeit sei. Es wurden Handschellen angelegt, und das tat mir immer besonders weh, wo es doch wirklich nicht nötig gewesen wäre. Dann stiegen wir auf den Lastwagen; ich saß auf der Bank mit dem zu Tode Verurteilten. Weiter hinten zwei oder auch mehr Wachsoldaten mit dem Gewehr. Auf dem Richtplatz, einer ehemaligen Sandgrube - jetzt Schießplatz - ein Stück vor der Stadt, war schon alles genau nach Vorschrift vorbereitet. Das Exekutionskommando, zehn Soldaten mit einem Offizier, ein paar Meter entfernt an der Seite der Gerichtsoffizier, ein Arzt, der Leiter des Vollzugsverfahrens, dazu ein Dienstgrad, meistens ein Unteroffizier, mit geladener Pistole für einen eventuell notwendigen Nachschuß und einige andere. Der Verurteilte wird an den Pfahl, fünf Meter vom Exekutionskommando entfernt, gebunden, die Handfesseln abgenommen und die Augen verbunden. Ich habe ihnen immer gesagt, sie könnten das verweigern, möchten es aber nicht tun, weil es dann den Soldaten noch schwerer fiele, zu schießen als so schon. Zuerst hat das immer ein Kommando der Landesschützen gemacht und dann, als die sich weigerten, ein Kommando des Wehrmachtsgefängnisses.

Der Gerichtsoffizier verlas noch einmal das Urteil. Dann habe ich die Hände des Verurteilen gefaßt, die sie immer ganz fest drückten, und habe gebetet: »Herr Jesu, dir leb ich, Herr Jesu, dir sterb ich, Herr Jesu, dein bin ich tot und lebendig, mache mich selig. Amen.«, bin ein paar Schritte auf die Seite gegangen, und alles war vorbei. Sie sind alle bis auf einen ganz standhaft gestorben. Ein Kriegsgerichtsrat hat mir nach einer Exekution einmal gesagt, alle wunderten sich über diese Standhaftigkeit. Aber er habe ihnen schon immer wieder gesagt, daran seien die Pfarrer schuld (so sagt man ja, wenn man auch nicht Schuld meint). Er war aus München. -

Der eine, der anders gestorben ist, war der, dessen Mutter den Brief geschrieben hatte, den ich abgeschrieben habe. Er hat sich an mir festgekrallt, daß ein Leutnant mir helfen mußte und dann selbst kaum loskam. Ich schreibe auch das, damit jeder, der es liest weiß, was »Krieg« heißt und was das Wort oder die Liebe von Eltern bedeuten kann. - Ich bin mit auf den Zivilfriedhof und habe am Grab ein Vaterunser gebetet. Polen haben den Sarg in die Erde versenkt. - Ich muß noch hinzufügen: alle zehn schossen aufs Herz, d. h. auf den roten Stoffetzen, den der Arzt anheftete; keiner auf den Kopf, wie immer gesagt worden ist. Es waren auch alle zehn Gewehre geladen, nicht nur eines, wie auch immer wieder behauptet wurde.

Ich habe dann gleich an die Angehörigen geschrieben, obwohl das auch gegen die Vorschrift war. Aber der Vorsitzende des Kriegsgerichtes, ein Oberkriegsgerichtsrat, auch aus München, hat mich darum gebeten und gesagt, er übernehme die Verantwortung dafür. Das Gericht hat erst später an den Bürgermeister - nicht wie bei Gefallenen an den Ortsgruppenleiter - nur die amtliche Todesmeldung übersandt. Es wurde uns Kriegspfarrern verboten, zu schreiben, es sei einer »tapfer« gestorben. »Tapfer« sterbe kein zum Tode Verurteilter.


 

Vernichtungsarbeit der Einsatzkommandos der SS

Ereignismeldung UdSSR Nr. 54 vom 16. 8. 1941

Einsatzgruppe A

Exekutive Tätigkeit

Sonderaktionen wurden, wie folgt, durchgeführt:

22. 7.41: 
Pagiriai - 1 Jude liquidiert
23. 7. 41: 
Kedainie-125 Personen (83 komm. Juden, 12 komm. Judenweiber, 14 russ. u. 15 lit. komm. Funktionäre, 1 Politruk) liquidiert.
25. 7. 41: 
Mariampole 103 Juden (90 Männer, 13 Weiber) liquidiert.
28. 7. 41: 
Panevezys 288 Personen (234 Juden, 15 Judenweiber, 19 russ. u. 20 lit. komm. Funktionäre) liquidiert.
29. 7. 41: 
Raseiniai 257 Personen (254 Juden, 3 komm. lit. Funktionäre) liquidiert.
30. 7. 41: 
Agriogala 38 Personen (27 Juden und 11 lit. komm. Funktionäre) liquidiert.
30. 7. 41: 
Umgebung Wendziogala 15 Personen Juden - 2 Mörder)
31. 7. 41: 
Utena 256 Personen (235 jd., 16 Jüdinnen, 2 lit. komm. Funktionäre, 1 doppelter Raubmörder).
1. 8. 41: 
Ukmerge 300 Personen (254 jd., 42 Jüdinnen, 2 lit. komm. Funktionäre, 1 ehem. Bürgermeister v. Jonava, der die Stadt angezündet hatte, 1 pol. Kommissar).
2. 8. 41: 
Kowno 209 Personen (171 jd., 74 Jüdinnen, 4 lit. komm. Funktionäre, darunter 1 amerik. Judenehepaar).

Das Kommando hat vom 22. 7. - 3. 8. 1941 1592 Personen liquidiert.

 


Zwei Erlebnisse in Tarnow:

Vor mir ging auf dem Gehsteig ein Deutscher in brauner Uniform. Ich glaube, »Goldfasane« nannte man diese Leute. Ein Pole kam ihm entgegen. Man sah es ihm an, daß er ein gebildeter Mann war. Er wich nicht schnell genug aus, d. h. er ging nicht schnell genug vom Gehsteig herunter. Da gab ihm der Deutsche eine schallende Ohrfeige. - Niemand soll sich wundern über das, was nach dem Zusammenbruch in Polen geschehen ist. Fast die ganze polnische Intelligenz war ausgerottet. Die braunen Männer haben ja wohl rechtzeitig ihre Koffer gepackt, aber andere mußten es büßen. -

Eines Tages war der Internist unseres Lazarettes, ein Stabsarzt, verschwunden. Wie fürchteten schon das Schlimmste, als er plötzlich wieder auftauchte. Er war von Partisanen entführt worden und mußte einen Kranken behandeln. Alle Arzneien, die er brauchte, wurden besorgt. Er wurde gut behandelt und sehr gut verpflegt. Als sie ihn dann nach ein paar Tagen zurückbringen wollten, sagte er, bei der deutschen Wehrmacht sei es üblich, daß man Marschverpflegung mitbekomme. Darauf haben sie ihm ein Paket mit lauter guten Sachen mitgegeben. Ich war dabei, als er es auspackte.


 

Rede Heinrich Himmlers über die SS-Moral, 4. 10. 1943

 

[ ... ] Ein Grundsatz muß für den SS-Mann absolut gelten: ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich haben wir zu Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und zu sonst niemandem. Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. Das, was in den Völkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen. Ob die anderen Völker in Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht. Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird. Wir werden niemals roh und herzlos sein, wo es nicht sein muß; das ist klar. Wir Deutschen, die wir als einzige auf der Welt eine anständige Einstellung zum Tier haben, werden ja auch zu diesen Menschentieren eine anständige Einstellung einnehmen, aber es ist ein Verbrechen gegen unser eigenes Blut, uns um sie Sorge zu machen und ihnen Ideale zu bringen, damit unsere Söhne und Enkel es noch schwerer haben mit ihnen. Wenn mir einer kommt und sagt: "Ich kann mit den Kindern oder den Frauen den Panzergraben nicht bauen. Das ist unmenschlich, denn dann sterben die daran"  - dann muß ich sagen: "Du bist ein Mörder an deinem eigenen Blut, denn wenn der Panzergraben nicht gebaut wird, dann sterben deutsche Soldaten, und das sind Söhne deutscher Mütter. Das ist unser Blut." Das ist das, was ich dieser SS einimpfen möchte und - wie ich glaube - eingeimpft habe, als eines der heiligsten Gesetze der Zukunft: Unsere Sorge, unsere Pflicht, ist unser Volk und unser Blut; dafür haben wir zu sorgen und zu denken, zu arbeiten und zu kämpfen, und für nichts anderes. Alles andere kann uns gleichgültig sein [ ... ]

[ ... ] Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. - "Das jüdische Volk wird ausgerottet", sagt ein jeder Parteigenosse,  - ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir. Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 da liegen oder wenn 1000 da liegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen - anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte [ ... ]

 


 

 
Zeittafel

1945

04.-11.02. Konferenz von Jalta
13.-14.02. Alliierte Bomardierung Dresdens
07.03. Amerikanische Truppen überqueren den Rhein bei Remagen
19.03. Hitlers Befehl »Verbrannte Erde«
25.04. Amerikanische und sowjetische Truppen treffen sich bei Torgau an der Elbe
30.04. Hitler begeht Selbstmord
02.05. Dönitz wird als »Reichspräsident« Nachfolger Hitlers und verlegt sein Hauptquartier nach Flensburg
07.-09.05. Unterzeichnung der deutschen Kapitulation in Reims und Berlin- Karlshorst

 


 

Führerbefehl »Verbrannte Erde«, 19. 3. 1945


Betr.: Zerstörungsmaßnahmen im Reichsgebiet.

Der Kampf um die Existenz unseres Volkes zwingt auch innerhalb des Reichsgebietes zur Ausnutzung aller Mittel, die die Kampfkraft unseres Feindes schwächen und sein weiteres Vordringen behindern. Alle Möglichkeiten, der Schlagkraft des Feindes unmittelbar oder mittelbar den nachhaltigsten Schaden zuzufügen, müssen ausgenützt werden. Es ist ein Irrtum, zu glauben, nicht zerstörte oder nur kurzfristig gelähmte Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen bei der Rückgewinnung verlorener Gebiete für eigene Zwecke wieder in Betrieb nehmen zu können. Der Feind wird bei seinem Rückzug uns nur eine verbrannte Erde zurücklassen und jede Rücksichtnahme auf die Bevölkerung fallenlassen. Ich befehle daher:

1. Alle militärischen Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte innerhalb des Reichsgebietes, die sich der Feind für die Fortsetzung seines Kampfes irgendwie sofort oder in absehbarer Zeit nutzbar machen kann, sind zu zerstören.

2. Verantwortlich für die Durchführung dieser Zerstörungen sind: die militärischen Kommandobehörden für alle militärischen Objekte (einschließlich der Verkehrs- und Nachrichtenanlagen), die Gauleiter und Reichsverteidigungskommissare für alle Industrie- und Versorgungsanlagen sowie sonstige Sachwerte. Den Gauleitern und Reichsverteidigungskommissaren ist bei der Durchführung ihrer Aufgabe durch die Truppe die notwendige Hilfe zu leisten.

3. Dieser Befehl ist schnellstens allen Truppenführern bekanntzugeben. Entgegenstehende Weisungen sind ungültig. -

 


Kriegsende

Von Tarnow wurde unser Lazarett nach Saybusch verlegt und von dort kam ich nach Neustadt in Oberschlesien an ein anderes Kriegslazarett. Dort habe ich erlebt, wie die Insassen des KZ Auschwitz zurückgetrieben wurden; anders kann man es nicht ausdrücken. Unsere beiden Häuser lagen auf beiden Seiten der Straße, auf der tagelang der Zug dahintaumelte. Männer, Frauen, Alte und Junge in ihren dünnen gestreiften Sträflingsanzügen, an den Füßen oft nur ein paar Lappen, bei eisiger Kälte im Januar 1945. Ein alter Mann konnte nicht mehr. Ein SS-Mann schlug ihn mit seinem Knüppel über den Kopf. Zwei haben ihn gestützt, dann fiel er doch zu Boden. Die beiden waren ja auch abgemagert zum Skelett. Der noch ganz junge SS-Mann zog kaltblütig seine Pistole und erschoß ihn. Er blieb einfach liegen. Die ganze Straße bis zur nächsten Stadt, so erzählten die LKW-Fahrer des Lazaretts, war besät von Toten. Die Wagen fuhren einfach darüber weg. Ich habe versucht, mit einem SS-Mann zu reden. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte mich auch erschossen. Nach dem Krieg in den Prozessen dann immer dasselbe: »Auf Befehl gehandelt.« -

In Neustadt war es dann auch, als ein Stabsarzt eine Einheit besuchte, die gegen die Partisanen eingesetzt war. Als er zurückkam, erzählte er im Kasino, wie man dort gefangene Partisanen dazu bringe, die Schlupfwinkel ihrer Kameraden zu verraten. Man band ihnen die Hände auf den Rücken zusammen und zog sie an einem Strich über einen Haken an der Decke empor bis sie brüllten vor Schmerz. Dann ließ man sie wieder ein wenig los und fragte nach den Verstecken. Das wiederholten sie so lange, bis sie alles verrieten. - Der Stabsarzt erzählte das lachend; er war ja auch der NS-Führungsoffizier des Lazarettes! - Und da gibt es heute noch Leute, die sagen: »Einen Hitler müßten wir haben, der sorgte für Ordnung!« Ein Massenmörder, der Ordnung schafft?!

*

Die Stadt wurde evakuiert, das Kriegslazarett nach Bad-Podiebrad in die CSSR verlegt. Ich blieb noch auf eigene Verantwortung bei einem Feldlazarett mit vielen Verwundeten, bis auch dieses zurückverlegt wurde.

Dann ging auch ich nach Bad-Podiebrad. Ich hatte hier viel zu tun in den Lazaretten, hielt daneben aber auch viele Gottesdienste für die vielen Flüchtlinge aus Schlesien und auch aus Ostpreußen, die überall in Massenquartieren untergebracht waren, konfirmierte ein Mädchen und habe viele, vor allem viele, viele Kinder beerdigt.

Oft war ich beim dortigen Pfarrer, Dr. Jeschke, der eine Schweizerin zur Frau hatte und fließend deutsch sprach. Während des »Prager Frühlings« war er dann bei uns in Neunkirchen zu Besuch und hat zwei Gottesdienste, d. h. zwei Predigten gehalten, wie ich noch kaum welche gehört habe. Hat in einem Gemeindeabend gesprochen und auf der Pfarrkonferenz. Er war mittlerweile Professor für praktische Theologie in Prag geworden. -

An einem der letzten Abende vor dem Zusammenbruch hielt der Stadtkommandant auf dem Marktplatz vor allen Truppen eine flammende Ansprache vom »geliebten Führer in seinen schweren Stunden«, vom »Standhalten bis zum Tode« usw. usw. Am nächsten Morgen ging ich zur Standortskommandantur, weil ich einige Leute zum Gräbermachen brauchte. Da standen tschechische Soldaten vor dem Schloßtor. Der heldenhafte Kommandant war in der Nacht davon. Ich ging ins Rathaus und stand plötzlich in einem Zimmer vor einem tschechischen General und einigen tschechischen Offizieren in voller Uniform. Da ist es mir schon etwas anders geworden. Der General fragte nach meinem Anliegen und versprach, Leute auf den Friedhof zu beordern. Gekommen ist aber niemand. So habe ich noch einige Leichtverwundete aus dem Lazarett geholt, und wir haben miteinander die letzten Toten beerdigt.

Am Abend wollte ich mit einigen Feldunterärzten davon. Wir hatten auch schon einen Kahn organisiert, um über die Elbe zu kommen. Ich blieb aber dann doch noch zurück, weil noch Verwundete im Lazarett waren. Einer der Unterärzte bat mich ganz dringend um meinen Kompaß. Ich hatte ihn jahrelang bei mir getragen, weil ich wußte, daß ich ihn einmal brauchen werde. Er meinte aber, ich käme auch so heim; so habe ich ihn zuletzt doch gegeben. Als unser Wolfgang, der 1964 in der Klinik in Würzburg gestorben ist, sich als Medizinstudent zum Präparierkurs beim Professor für Anatomie anmeldete und seinen Namen sagte, entgegnete dieser sofort: »Dann kenne ich Ihren Vater.« Es war der Unterarzt, dem ich den Kompaß gegeben hatte.


 
Bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht, 8.5. 1945

 

1. Wir, die hier Unterzeichneten, handelnd in Vollmacht für und im Namen des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht, erklären hiermit die bedingungslose Kapitulation aller am gegenwärtigen Zeitpunkt unter deutschem Befehl stehenden oder von Deutschland beherrschten Streitkräfte auf dem Lande, auf der See und in der Luft gleichzeitig gegenüber dem Obersten Befehlshaber der alliierten Expeditionsstreitkräfte und dem Oberkommando der Roten Armee.

2. Das Oberkommando der deutschen Wehrmacht wird unverzüglich allen Behörden der deutschen Land-, See- und Luftstreitkräfte und allen von Deutschland beherrschten Streitkräften den Befehl geben, die Kampfhandlungen um 23.01 mitteleuropäischer Zeit am 8. Mai einzustellen und in den Stellungen zu verbleiben, die sie an diesem Zeitpunkt innehaben, und sich vollständig zu entwaffnen, indem sie Waffen und Geräte an die örtlichen alliierten Befehlshaber bzw. an die von den alliierten Vertretern zu bestimmenden Offiziere abliefern. Kein Schiff, Boot oder Flugzeug irgendeiner Art darf versenkt werden, noch dürfen Schiffsrümpfe, maschinelle Einrichtungen, Ausrüstungsgegenstände, Maschinen irgendwelcher Art, Waffen, Apparaturen, techn. Gegenstände, die Kriegszwecken im allgemeinen dienlich sein können, beschädigt werden.

3. Das Oberkommando der deutschen Wehrmacht wird unverzüglich den zuständigen Befehlshabern alle von dem obersten Befehlshaber der alliierten Expeditionsstreitkräfte und dem Oberkommando der Roten Armee erlassenen zusätzlichen Befehle weitergeben und deren Durchführung sicherstellen.

4. Diese Kapitulationserklärung ist ohne Präjudiz für irgendwelche an ihre Stelle tretende Kapitulationsbedingungen, die durch die Vereinten Nationen und in deren Namen Deutschland und der deutschen Wehrmacht auferlegt werden mögen.

5. Falls das Oberkommando der deutschen Wehrmacht oder irgendwelche ihm unterstehende oder von ihm beherrschte Streitkräfte es versäumen sollten, sich gemäß den Bestimmungen dieser Kapitulationserklärung zu verhalten, werden der oberste Befehlshaber der alliierten Expeditionsstreitkräfte und das Oberkommando der Roten Armee alle diejenigen Straf- und anderen Maßnahmen ergreifen, die sie als zweckmäßig erachten.

6. Diese Erklärung ist in englischer, russischer und deutscher Sprache abgefaßt. Allein maßgebend sind die englische und die russische Fassung.


Unterzeichnet zu Berlin am 8. Mai 1945

gez. v. Friedeburg   gez. Keitel    gez. Stumpff

für das Oberkommando der deutschen Wehrmacht [ ... ]

 


 

Flucht und Heimkehr

 

Am anderen Tag um neun Uhr bin ich mit einem Fahrrad, das ich irgendwo aufgegabelt hatte, über die Elbebrücke gefahren. Kaum war ich drüben, wurde nach mir geschossen. Ich habe das Fahrrad liegen lassen und bin in den Wald geflüchtet.

Auf allen Straßen fluteten die deutschen Truppen zurück. In einem Dorf wurden wir von Partisanen angegriffen. Jeder schoß mit der Waffe, die er zur Hand hatte oder die er fand. Es lagen genug herum. Das war das erste Mal, daß ich mit einer Panzerfaust geschossen habe. Mitten im brennenden Dorf stand ein Omnibus mit zerschossenen Fenstern. Ich hing mich in ein Seitenfenster nach außen, der Omnibus fuhr an und fuhr so nahe an einem LKW vorbei, daß ich eingequetscht wurde und mit zwei gebrochenen Rippen (so wenigstens hat es der Weidener Arzt nach vierzehn Tagen festgestellt) einem doppelt gebrochenen Arm und einem gebrochenen Finger, zerbrochener Brille und Hauptabschürfungen im Gesicht, für einige Augenblicke bewußtlos unter den LKW fiel. Ich konnte wieder aufstehen, habe meinen Arm, der rechtwinkelig abgebogen war, 'begradigt', ebenso den Finger. Den Fingernagel, der zurückgebogen war, konnte ich nicht anrühren. Ein Stück bin ich dann gelaufen, wurde aber dann von einer Selbstfahrlafette mitgenommen und habe die folgende Nacht auf dem Kotflügel geschlafen.

Am nächsten Tage ging es weiter. Alle möglichen Parolen wurden durchgegeben, so auch, wir dürften wieder mit dem militärischen Gruß, d. h. mit der Hand an der Mütze grüßen, nicht mehr mit »Heil Hitler«, wie wenn es darauf angekommen wäre.

Wir kamen in ein Dorf, als es plötzlich hieß: »Rechts ran!« Wir waren bei den Russen. Ich ging langsam auf der Straße weiter. Ein Russe nahm mir meinen Fotoapparat ab. Meinen Ehering und meine Uhr hatte ich in meinem Armverband versteckt, den ich mir unter Beihilfe eines Medizinstudenten angelegt hatte. Dann kam wieder ein Russe, sah mich kurz an, und winkte mir, mitzukommen. Er führte mich auf die Seite hinter die abgestellten Kraftfahrzeuge, bis wir ganz allein waren. Ich dachte nicht anders, als er werde mich jetzt erschießen, hatten wir doch so viel über die Russen gehört, und wir hörten doch schon ständig schießen und schreien. Ich weiß noch genau, ich überlegte nur: Was wird er jetzt machen! Sonst konnte ich nichts mehr denken. Ich mußte mich hinsetzen, und er zog mir einen Stiefel aus. Ich hatte mir in Polen neue, wunderbare Stiefel machen lassen, die stachen ihm ins Auge. Ich sagte »malinka«, zu klein. Er probierte und warf mir die Stiefel wieder hin. Mit einer Hand konnte ich ihn nicht anziehen. So ging ich mit dem Stiefel zurück auf die Straße und ließ mir von einem Kameraden helfen. Kaum hatte ich den Stiefel wieder an, kam schon wieder ein Russe und winkte mir. Ich hatte seinen Blick auf die Stiefel gesehen und sagte gleich: »malinka«. Er sagte aber »egal«, zog mir beide Stiefel aus und warf sie auf einen Karren, auf dem lauter Stiefel lagen. Ich bedeutete ihm, daß ich so doch nicht weitergehen könne; da hatte er anscheinend Mitleid, suchte ein paar Knobelbecher heraus und warf sie mir hin. Sie waren viel zu groß und hatten hinten ein großes Loch. Aber ich bin damit heimgekommen.

Alle Gefangenen wurden nun geteilt; auf die eine Seite kamen die Gesunden, auf die andere Seite die Verwundeten. Nun war es mein Glück, daß ich verwundet war, wenn auch nicht durch Waffen. Wir kamen auf eine große Wiese und blieben dort über Nacht. Die russischen Wachsoldaten verschwanden einer nach dem anderen. Wir konnten uns denken, wohin sie gingen. Wir hörten immer wieder Mädchen schreien.

Ich konnte nicht schlafen, hatte Fieber und Schmerzen. Die ganze Nacht rieselte eine feiner Regen nieder. In alle Frühe stand ich auf, sah einen Kriegspfarrer, ob evangelisch oder katholisch weiß ich nicht mehr, und suchte ihn zu überreden, doch mit mir zu versuchen, die Verwundeten in Richtung Westen zu führen. Aber er lehnte das ganz energisch ab und behauptete, er habe hier die Verantwortung übertragen bekommen. Ich weiß nicht, ob er sich selbst zum Oberbefehlshaber dieser Armee gemacht hatte oder ob ihm wirklich jemand den Befehl gegeben hatte. Jedenfalls ließ ich ihn stehen und suchte mir einen anderen Mann. Den fand ich in Gestalt eines Zahlmeisters. Nach kurzer Lagebesprechung mit ihm schrie ich von einer etwas erhöhten Stelle aus: »Alles aufstehen und mir nach!« Nun waren das alle Soldaten, die gewohnt waren, einen Befehl aufzuführen ohne zu fragen, wer ihn gegeben und wozu. Sie standen alle auf und folgten mir. Es war fast eine richtige Marschordnung. Mit dem Zahlmeister voran ging ein Mann mit einer Roten-Kreuz-Fahnen; woher sie war, weiß ich nicht. Ich stand auf meinem 'Feldherrnhügel' und überzählte die Kolonne. Es waren gut tausendachthundert Mann. Dann ging ich vor dem Zahlmeister, und das war gut, denn bald kamen wir an einem russischen Flakgeschütz vorbei. Ein Russe hielt uns an, und ich deutete in die Richtung, in die wir gingen und sagte: »Lazarett«; »ah«, antwortete er, »Lazarett«, und ließ uns passieren. Er wußte so wenig wie wir, wo ein Lazarett war.

Wir gingen weiter, aber bald kam das nächste Hindernis, und das war nicht mit einem Wort wie »Lazarett« zu überwinden. Es war die Moldau. Nebenbei gesagt, es war nicht weit weg von der Brücke, an der Gollwitzer (Und führen, wohin du nicht willst) in Gefangenschaft kam.

Hier bot sich uns ein Bild, das man kaum beschreiben kann. So benehmen sich Menschen, die wissen, daß es ums Leben geht und die nur eine Möglichkeit dazu sehen - »Rette sich wer kann« -: ein Kahn über den Fluß. Es waren Kähne da, aber keiner auf dem Wasser, alle am Strand, und um jeden stritten sich eine ganze Menge Soldaten. Einige sah man hinüberschwimmen; viele, so erzählte mir später jemand, seien ertrunken. Unsere Kolonne löste sich schnell auf. Ich ging ein Stück den Fluß entlang, zog mich aus und stopfte meine Kleider unter den Arm oder besser gesagt, unter das Tuch, in dem der gebrochene Arm lag und wollte versuchen, hinüberzuschwimmen. Ob ich es geschafft hätte, weiß ich nicht. Der Fluß war hier ziemlich breit und nicht reißend. So hätte ich mich abtreiben lassen können, nur, ob es mir nicht zu kalt gewesen wäre? Bevor ich ins Wasser ging, sah ich, daß etwas weiter aufwärts noch ein Kahn lag und nur ein kleines Häuflein Soldaten dabei. Ich zog mich wieder an, was eine schwere Arbeit, und ging hin. Im Kleinen hier das gleiche Bild. Sie stritten um den Kahn, keiner konnte hinein. Ein tschechischer Mann, ihm gehört wohl der Kahn, stand hilflos schauend dabei.

Zwei Ärzte, die dabei waren, sahen mich kommen und baten mich gleich, zu versuchen, die Leute zur Vernunft zu bringen, dann könnten wir alle ans andere Ufer kommen. Sie sahen alle auf mich, und ich brauchte gar nicht mehr viel zu sagen. Ich bat sie, sich in einer Reihe aufzustellen, dann sollten immer drei oder vier hinüberrudern und einer wieder mit dem Kahn zurückkommen. Er dürfte dann bei der nächsten Fahrt dabei sein. Ich selbst werde als Letzter fahren. Die hinter uns kämen, müßten sich hinter uns aufstellen. So kamen wir alle hinüber, ich mit den Ärzten und einem anderen Kameraden als letzter. Drüben ging wieder jeder seines Weges.

Ich traf einen Tschechen, gab ihm meine letzten Zigaretten und erfuhr von ihm, daß wir in der Nähe von Pisek waren, daß dort die Amerikaner und die Russen seien. Also auf keinen Fall nach Pisek! Kaum hatte ich das gedacht, waren Amerikaner da und wiesen mich zu einer Sammelstelle von deutschen Soldaten, die von allen Seiten hierher gebracht wurden. Ein Entrinnen war nicht mehr möglich. Es kam der Befehl zum Aufbruch, alles setzte sich in Bewegung auf der Straße Richtung Pisek. Ich sagte der Krankenschwester, die das Kommando übernommen hatte - wieso, weiß ich nicht -, wir dürften nicht nach Pisek; aber sie war sich ihrer Befehlsgewalt bewußt, niemand dürfe zurückbleiben sagte sie in strengem Befehlston. In Pisek würden wir auf LKW verladen und kämen nach Deutschland! - Ohne mich! Nun »konnte ich nicht mehr weiter«, blieb am Straßenrand sitzen, beobachtete die Gegend und wartete, bis der ganze Zug vorbei war. Etwa zweihundert Meter entfernt hatte ich einen einsamen Bauernhof entdeckt und einen alten Mann, der aus dem Brunnen Wasser holte. Ich konnte jetzt wieder gehen und lief über die Wiese hinüber, bekam auch Wasser von dem alten Manne und lief dann weiter zum Wald. Von irgendwoher kamen ein paar Schüsse, aber da war ich schon in Sicherheit.

Auf einem Waldweg traf ich ein paar Soldaten, die mir erzählten, sie kämen aus Pisek; dort würden alle nach dem Osten verfrachtet, ihnen sei gerade noch die Flucht gelungen. Wie aus dem Boden gewachsen, standen da plötzlich zwei Tschechen vor uns, das Gewehr auf uns gerichtet, und fragten, wohin wir wollten. Ich sagte sofort: »nach Pisek«, und bat sie, uns den Weg zu zeigen. Sie waren sichtlich erfreut und beschrieben uns genau den Weg. Soweit sie uns sehen konnten, gingen wir den uns beschriebenen Weg und verschwanden dann im Wald.

Von da an ging ich nur noch bei Nacht. Einen Kompaß hatte ich nicht mehr, aber jede Nacht war sternenklarer Himmel und den Nordpolarstern zu finden, habe ich einmal in der Schule und dann noch einmal bei der Ausbildung in der Kaserne gelernt. - Trotzdem war es nicht so ganz einfach, die Richtung einzuhalten, denn ich mußte durch viele Wälder gehen und sonst über freies Gelände, nie auf einem Wege. Einmal bin ich in einen Steinbruch hinuntergerutscht und habe mir die ganze linke Seite aufgeschlagen, so daß ich schon meinte, es ginge nicht mehr; aber es ging.

Jede Nacht war ich mit anderen zusammen. Einmal mit einem Leutnant. Er überredete mich, es doch einmal auf der Straße zu versuchen. Wir wollten gerade die Straße betreten, als wir wieder zwei Gewehrläufe auf uns gerichtet sahen und ein »Halt!« hörten. Der Leutnant sagte sofort geistesgegenwärtig »Ameritschani«. Wir konnten weitergehen. Es war so dunkel, daß sie unsere Uniformen nicht erkennen konnten.

Einmal brauchte ich drei Stunden, um eine Stadt zu umgehen. In einer Nacht suchte ich vom Abend bis zum Morgen nach einer Brücke über den Fluß und stand dann im ersten Morgengrauen auf einmal auf einer Eisenbahnbrücke, auf der kein Posten war. Erst als ich drüben war und im Wald, hörte ich Lärm und Mädchen schreien. Sie hetzten Hunde in den Wald. Aber Hunde, die nicht an der Kette sind, sind nicht gefährlich; da genügt ein kleiner Stecken, ausgenommen die Bluthunde in den KZ's und bei den Einheiten, die Partisanen zu bekämpfen hatten und die eingesetzt wurden, um fahnenflüchtige Soldaten einzufangen.

Genährt habe ich mich fast eine Woche lang von Sauerklee und einer rohen Kartoffel. Ich hatte zwar vorgesorgt und geröstete Weißbrotwürfel eingesteckt, aber dann Seife dazu. So konnte ich nichts mehr davon essen. Nur ein Stück Speck hatte ich noch, und den wollte ich als eiserne Ration aufheben, »wenn es nicht mehr gehe«. Ich sagte das einem Leutnant, und der sagte darauf: »Es geht nicht mehr«. Dann sagte er noch, obwohl das Unsinn war, weil er genauso wenig eine Ahnung hatte, wo wir uns befanden, wie ich, morgen kämen wir zu Deutschen. So teilte ich das Stück Speck, und wir aßen es. Ich wundere mich heute noch, daß wir es mit unserem ausgehungerten Magen vertrugen. Aber sonderbar - oder wunderbarerweise - beim ersten Morgengrauen waren wir an einem alleinstehenden Haus von Sudetendeutschen.

Wir bekamen ein wunderbares Essen und schliefen ein paar Stunden auf dem Heuboden. Ein Mädchen brachte mir vom katholischen Pfarrer der nächsten Ortschaft einen Zivilanzug, sogar einen grünen Jägerhut dazu. Jetzt ging ich bei Tag weiter, mußte nur immer aufpassen, wenn ein amerikanischer Jeep kam, denn diese hielten alle Männer an und brachten sie, wenn es Soldaten waren, zu einer Sammelstelle, von wo aus sie nach Rußland gebracht wurden. Einmal konnte ich mich nur noch dadurch retten, daß ich schnell einer Frau den Graskorb wegnahm, ihn auf den Rücken nahm und den Rechen in die Hand; der Jeep fuhr vorbei.

Ich kam in die Nähe der Grenze nach Deutschland, und man sagte mir, hier sei es besonders schwierig, nicht von den Amerikanern erwischt zu werden. Ich solle über den Mittagsberg gehen, auf dessen Gipfel die Grenze verlaufe. Vier Stunden brauchte ich bis oben. Oben stand ich vor dem Grenzstein, aber nun wußte ich nicht, nach welcher Richtung ich gehen müsse; es lag Schnee und kein zweiter Grenzstein war zu finden. Der Himmel war bedeckt und keine Sonne zu sehen. Ich sah mir die Bäume an, auch das habe ich bei der Ausbildung gelernt, auf welcher Seite sie verwittert waren. Aber auch das war nicht festzustellen. So ging ich in entgegengesetzter Richtung weiter als ich gekommen war. Nach zwei Stunden kam ich an ein Dorf, klopfte vorsichtig ans Fenster des ersten Hauses und fragte, wie die Ortschaft heiße. Es war die gleiche Ortschaft, von der ich vor sechs Stunden zum Mittagsberg aufgebrochen war, nur das andere Ende. Die Leute nahmen mich trotz meiner Bitten nicht auf; es stehe die Todesstrafe darauf, sagten sie mir. Sie beschrieben mir einen Weg in den Wald, wo ich nach einer Stunde eine Hütte finden werde. Ich fand die beschriebene Hütte nicht, aber eine Bauhütte, in der Matratzen lagen. Ich stieg durch das offene Fenster hinein und schlief sofort ein. Als ich wieder aufwachte, war es bald Tag. Ich sah, daß die Tür auch offen war - so blöd ist man, wenn man so fertig ist - und machte mich wieder aufs Geratewohl auf den Weg.

Nach ein paar Stunden hörte ich Frauen reden. Ich war schnell in den Wald gegangen, ging jetzt heraus und fragte, wo ich sei. Ich war auf dem Weg nach Zwiesel. Wo ich in der Nacht über die Grenze bin, weiß ich nicht, es war ein Freitag. Am Dienstag Abend war ich in Wilchenreuth bei meinen Eltern. Hier mußte ich noch ein paar Tage liegen und Umschläge auf meiner linken Seite machen, weil der Arzt fürchtete, es könne noch zum Eitern kommen.

 

Entlassung aus der Armee

Am Samstag bin ich mit meinem Bruder Oskar, der auch erst heimgekommen war, nach Neustadt, weil man mir sagte, dort bekäme man von den Amerikanern einen Entlassungsschein. Ich ging zum Posten beim jetzigen Landratsamt; er wies mich zu einem anderen auf der gegenüberliegenden Seite. Der wies mich an einen dritten bei der Post und der an den vierten gegenüber. Dieser Vierte ließ mich ins Haus und in ein Zimmer und schloß hinter mir zu. Ich war im Gefängnis. Ein Ortsgruppenleiter aus der Nähe von Tirschenreuth war mein Zimmergenosse. Zum Schlafen war Stroh da. Der Ortsgruppenleiter sagte, vor Montag käme niemand mehr, ich solle mich damit abfinden. Das tat ich aber nicht, sondern schlug solange an die Tür, bis ein deutscher Posten kam und mich zum amerikanischen brachte, der auf einem Stuhl saß und nur mit Kopfe in eine Richtung wies. Der deutsche Posten führte mich in die angegebene Richtung; da war ich wieder beim ersten Posten, der schickte mir wieder zum zweiten, der zum dritten und der wollte mich wieder zum vierten schicken. Damit war ich nun gar nicht einverstanden und stritt mich mit ihm so laut, daß ein amerikanischer Leutnant herauskam und sich erkundigte, was los sei. Ich sagte, ich sei verwundet, habe starke Schmerzen und müsse unbedingt in ein Lazarett. Er sah das ein und fragte, in welches ich wolle, ins deutsche oder ins amerikanische. Ich fürchtete eine Falle und sagte sofort, ich wolle ins amerikanische. Er nickte und wies mich nach Wöllershof. Ich ließ mir genau den Weg beschreiben, den ich seit meiner Kindheit kenne, und ging los, aber nur so weit, bis man mich nicht mehr sehen konnte, dann schnell rechts ab über die Glashütte zum Felixberg, wo mein Bruder noch mit meinem Fahrrad wartete.

Am nächsten Tag fuhr ich mit dem Fahrrad los in Richtung Watzendorf. Am übernächsten Tage, es war der 30. Mai 1945, war ich daheim. Die Watzendorfer sagten schon, als die ersten Soldaten aus der Gegend von Prag kamen (Podiebrad liegt fünfzig Kilometer östlich von Prag): »Wenn jetzt unser Pfarrer nicht bald kommt, kommt er nicht mehr; denn so schnell wie er läuft sonst keiner.«

Ich bin noch nicht ganz am Ende; ich war noch Gefangener, denn jeder Soldat, der nicht offiziell entlassen war und keinen Entlassungsschein vorweisen konnte, war Gefangener. So fuhr ich nach Coburg ins Gefangenenlager der Amerikaner, um mich entlassen zu lassen. Ich stand in einer langen Reihe vor einer Tür und mußte lange warten, bis ich dran war. Besonders mein Vordermann brauchte sehr, sehr lange. Er hatte mir vorher schon gesagt, er werde wohl kaum entlassen werden, weil er bei einer Spezialeinheit gewesen sei, die sich besonderer Beliebtheit erfreue. Aber als er herauskam, strahlte er und sagte mir noch, bevor ich hineinging: »Er fragte mich, was ich gewesen sei und als ich sagte »Fahrer«, hat er nur noch über Autos gesprochen und mich gefragt, welche ich für die besten halte, da habe ich natürlich gesagt, »die amerikanischen«. - Nun ging ich hinein. Der Mann saß dort, ein Bein auf dem Tisch und fragte gleich, was ich im Kriege gewesen sei. Ich sagte. »Pfarrer«. Da strahlte er übers ganze Gesicht, denn er hatte »Fahrer« verstanden und sagte »driver« - sehr gut und schrieb mir meinen Entlassungsschein aus.

Nun war der Krieg auch für mich zu Ende.


 

Aus: Lutz Lemhöfer: Gegen den gottlosen Bolschewismus. Zur Stellung der Kirchen zum Krieg gegen die Sowjetunion. In: Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. »Unternehmen Barbarossa« 1941. Herausgegeben von Gerd R. Ueberschär und Wolfram Wette. Frankfurt/M. 1991

Es gab nach dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 keinerlei Protest seitens evangelischer Stellen aller Lager. Im Gegenteil, der »Geistliche Vertrauensrat« griff sogleich auf die peinlich-pathetischen Predigttöne von 1914 zurück: »Die deutsche evangelische Kirche stand immer in treuer Verbundenheit zum Schicksal des deutschen Volkes. Zu den Waffen aus Stahl hat sie unüberwindliche Kräfte aus dem Wort Gottes gereicht. « 32 In dieser Tonart wurden auch weitere Angriffe und Siege gefeiert. Der Frankfurter Propst Alfred Trommershausen etwa verkündete im Vorwort zum »Frankfurter Kirchenkalender« 1941: »Geschichtliche Zeiten ohnegleichen erleben wir. Der Herr der Zeiten geht über die Erde und hält Gericht. Er straft das Verbrechen von Versailles, richtet alles Scheinchristentum und hebt unser deutsches Volk wieder zur Höhe empor.«

[...]

Die beiden großen Kirchen in Deutschland ließen in den Jahren 1939-1945 keine Zweifel an der Legitimität der deutschen Kriegführung erkennen. Sie predigten vaterländische Loyalität und Pflichterfüllung. Die von der NS-Propaganda genannten Kriegsgründe und -ziele, wie der angeblich notwendige Lebensraum im Osten, spielten in kirchlichen Verlautbarungen aber kaum eine Rolle. Das änderte sich allerdings mit dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Das Motiv des abendländischen Kreuzzugs gegen den Bolschewismus fand durchaus Widerhall in Äußerungen kirchenleitender Personen und Gremien. Über die Wirksamkeit solcher Erklärungen kann nur spekuliert werden; aber Christen konnten zumindest aus diesen Äußerungen die Meinung gewinnen, beim Kampf gegen den sowjetischen Kommunismus gehe es um die Sache Gottes und die Rettung des Christentums. Darin unterschied sich die kirchliche Wahrnehmung des Kriegsgegners Sowjetunion deutlich von den anderen Kriegsgegnern Deutschlands.

Nur die »Deutschen Christen« und der katholische Feldbischof Rarkowski übernahmen die NS-Kreuzzugspropaganda ohne jede Einschränkung und Bedingung. Wo in der katholischen und der Bekennenden Kirche der Kampf gegen den Bolschewismus aufgegriffen wurde, geschah dies zumeist verknüpft mit Anklagen gegen den »Kulturbolschewismus« der Nazis: deren Kirchenkampf wurde mit dem des Bolschewismus parallelisiert oder als Hindernis für den gemeinsamen Kampf aller Deutschen gegen den Bolschewismus herausgestellt. Die Unterstützung des Antibolschewismus der Nazis drückte sicher die Überzeugung der jeweiligen Kirchenvertreter aus, diente aber auch als Vehikel, um kirchlichen Forderungen Gewicht zu verleihen.