Hans Leonhard: Wieviel Leid erträgt ein Mensch.
Aufzeichnungen eines Kriegspfarrers über die Jahre 1939 - 1945.
http://www.menschenkunde.net/Pfarrer


Kriegspfarrer (2)

 

Zeittafel

1943

13.01.

Erlaß Hitlers über den Einsatz der Männer und Frauen für die Aufgaben der Reichsverteidigung

14.-15.
01.

Auf der Konferenz von Casablanca zwischen Roosevelt und Churchill wird die »bedingungslose Kapitulation« Deutschlands gefordert

31.01. -
02.02.

Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad

18.01.

Goebbels verkündet im Berliner Sportpalast den »totalen Krieg«

19.04.

Beginn des Aufstandes im Warschauer Ghetto

19.05.

Berlin wird »judenfrei« erklärt

10.07.

Alliierte Landung auf Sizilien

1944

06.06.

Invasion der Alliierten in Nordfrankreich

03.07.

Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Osten

20.07.

Stauffenbergs Attentat auf Hitler

28.11. -
01.12.

Konferenz in Teheran zwischen Roosevelt, Churchill und Stalin

16.12.

Beginn der Ardennen-Offensive

25.07.

Sturz Mussolinis und das Ende des faschistischen Regimes in Italien

 


Bei der Division

 

Mitte Dezember 1943 wurde ich zu einer Division abkommandiert, um den erkrankten Divisionspfarrer zu vertreten. Einer meiner ersten Dienste war die Begleitung eines zum Tode Verurteilten zur Exekution. Er war noch sehr jung. Gerade vor Weihnachten war er in einem leeren Stall eingesperrt. Ich besuchte ihn und hielt im Stall für ihn und zwei Kameraden, die Arrest hatten, einen Weihnachtsgottesdienst. Er erzählte mir, seine Mutter sei krank, und er habe deshalb ein paar Nächte nicht schlafen können, dann sei er auf Wache gekommen und eingeschlafen. Auf Wachvergehen steht die Todesstrafe. - Wenn ich denke, wie alle jungen Leute immer schlafen können! - Bei der Exekution stand er auf freiem Feld, fünf Meter vor ihm das Exekutionskommando, zehn Kameraden - so war es Befehl. Der Offizier, der die Exekution leitete, fragte ihn nach einem letzten Wunsch. Er bat, sich bei einem Kameraden bedanken zu dürfen. Der betreffende Kamerad gab sein Gewehr seinem Nebenmann, ging hin und gab ihm die Hand, ging zurück und legte mit an.

*

Ich wollte an Weihnachten gleich in die Stellung vor; das wurde aber vom Divisionskommandeur verboten, da höchste Alarmbereitschaft angeordnet war. So konnte ich nur für die Leute beim Divisionsstab einen Weihnachtsgottesdienst halten. Nachdem mir gesagt wurde, daß der Divisionspfarrer erst alle Einheiten der Division besucht hatte, ging ich gleich nach den Feiertagen vor zu einem Regiment, das erst zugeteilt worden war. Ich meldete mich beim Adjutanten. Der sah mich etwas hilflos an und fragte, was ich denn nun eigentlich wolle, ob ich die Offiziere kennenlernen möchte. Als ich ihm sagte, ja, das auch, aber vor allem möchte die Kameraden in den Stellungen besuchen, da sah er mich ganz erstaunt an und sagte, da müsse er mich gleich beim Kommandeur melden. Der Regimentskommandeur, ein Oberstleutnant, sah mich ebenso erstaunt an und sagte ungefähr wörtlich: »Ich war im ersten Weltkrieg an vorderster Front und ebenso in diesem Kriege vom ersten Tage an; aber einen Divisionspfarrer habe ich bei mir vorne in der Stellung noch nie gesehen.«

Nun hatte ich zufällig den Divisionspfarrer der Division, zu der dieses Regiment gehörte, im Lazarett kennengelernt. Er wurde wegen Säuferwahnsinn eingeliefert, stand mit einem Glas Bier auf dem Tisch, als ich ihn besuchte, und hielt Reden. Aber daß ein Offizier, der ungefähr sieben Jahre an der Front war, nie einen Kriegspfarrer in der vordersten Stellung gesehen hat, das konnte ich nicht begreifen. Ich weiß von vielen Divisionspfarrern, die in vorderster Stellung gefallen sind. Freilich, es gab in diesem Kriege viel zu wenig Kriegspfarrer, denn seit 1942 (ich glaube, es war dieses Jahr) wurden keine mehr ernannt, und es fielen viele aus. Für mich war das eine besondere Verpflichtung, die Kameraden in den Stellungen zu besuchen.

Bei Tage konnte ich das nicht, denn da mußten die einen auf ihren Posten sein und die anderen schliefen. Außerdem waren die Stellungen vom Feind eingesehen. So ging ich jede Nacht von Eintritt der Dunkelheit an bis zum ersten Morgengrauen durch die Stellungen. Mein 'vorgeschobenes' Quartier hatte ich in der Nähe des Verbandsplatzes, und ich fuhr mit einem zweirädrigen Karren zu den Stellungen. Überall hatte es sich schon herumgesprochen, daß der Pfarrer die Stellungen besuche und überall wurde ich freundlich empfangen. Entweder ging ich durch den Graben von einem zum anderen oder es wurde eine kleine Gruppe in einem Bunker versammelt. Da kniete ich dann - stehen konnte ich wegen des beißenden Rauches des Kanonenofens nicht - im Kreis der Kameraden, redete mit ihnen und hielt eine kurze Andacht. Manchmal stritten sie sich, wer mich zur nächsten Stellung führen durfte. Mancher hat mir auf dem Wege in eisiger Winternacht sein Herz ausgeschüttet. Wo ich auch war, von Begeisterung habe ich nichts mehr gesehen, nur noch Sorge und Angst, was werden wird.

Einmal traf ich auf einer Waldschneise die Essenträger der verschiedenen Stellungen, die auf die Feldküche warteten, die sich verspätet hatte. Es war Mitternacht, und ich hielt einen kurzen Gottesdienst. Ich fragte nach einem Lied, das alle kannten. Sie kannten alle nur eines: »So nimm denn meine Hände.« Wir sangen es nur leise, denn der Feind war nicht weit weg. So kann auch ein solches Lied, »das man heute nicht mehr singt«, seinen Dienst tun, so wie im Lazarett, wo ich immer wieder darum gebeten wurde.

Auch hier bei der Division mußte ich wieder erfahren, wie gefährlich es ist, wenn man nicht jedes seiner Worte vorher genau überlegt. Einige Kameraden sagten mir, sie hätten Angst, wenn die Front auf einmal zurückverlegt würde. Sie könnten doch in dem bei dieser Kälte so tief gefrorenen Boden keine Stellungen graben. Ich beruhigte sie und sagte, die Stellungen seien schon gebaut. Ich dachte mir überhaupt nichts bei dieser Bemerkung. Da wurde ich nicht lange darauf zum Regimentskommandeur gerufen, und der sagte mir, er müsse mich eigentlich vor ein Kriegsgericht stellen. Wie ein Lauffeuer sei es durch die Stellungen gegangen, daß ich gesagt habe, es seien weiter hinten schon Stellungen gebaut; also stehe der Rückzug bevor. Das sei Zersetzung der Wehrkraft und Schwächung des Kampfgeistes der Truppe. Darauf stand die Todesstrafe. Es blieb bei der Verwarnung dank des Wohlwollens des Kommandeurs. -

Wenn ich in der Morgendämmerung heimkam, betätigte ich mich erst einmal als Insektenfänger. Kleiderläuse und Flöhe brachte ich jede Nacht in Massen mit. Ich bekam auch darin bald eine Routine, nur wie die Landser sonst, zwischen Daumennägeln, nein, das brachte ich nicht fertig. Ich machte es mit Pinzette und Kerze.

Nachmittags war ich dann auf dem Verbandsplatz, wo bis zu zweihundert Verwundete lagen. Viele, die einen 'Heimatschuß' bekommen hatten, waren froh und vergnügt, hofften sie doch alle, der Krieg sei zu Ende bis zu ihrer Genesung. Für die anderen, die nach ein paar Tagen wieder in die Stellung mußten, war es besonders schwer. Einen Leutnant aus Wien habe ich beerdigt, der an der gleichen Stelle, an der ich ihn am Tage vorher fotografiert hatte, durch einen russischen Scharfschützen einen Kopfschuß bekam.

Auch auf dem Verbandsplatz spielte ich auf meiner Trompete, und ein paar Mal erzählten mir dann die Soldaten in der Nacht, wenn ich durch die Stellungen ging, daß sie mich gehört hätten. - Erwähnen möchte ich noch, daß ich mich mit den Ärzten auf beiden Hauptverbandsplätzen besonders gut verstand.

Ein schweres Erlebnis noch: Viele Verwundete auf dem Hauptverbandsplatz. Sie lagen auf Tragen vor dem 'Operationssaal', einer Panjehütte, wo zwei Ärzte stundenlang ununterbrochen operierten. Ich ging von einem zum andern, half, wo und soweit ich helfen konnte, gab zu trinken oder schrieb ein paar Worte an Angehörige. Da bat mich ein Verwundeter ganz dringend, doch dafür zu sorgen, daß er drankomme. Er habe einen Bauchschuß und wisse als Medizinstudent, daß er sterben müsse, wenn er nicht sofort operiert werde. Ich redete mit dem Arzt, er wußte schon davon; aber er sagte mir, die Verwundung liege schon so viele Stunden zurück, daß nur noch wenig Aussicht bestehe, den Mann durchzubringen. Dagegen seien andere mit Bauchschüssen da, die erst kurz vorher verwundet worden seien und bei denen eine Operation noch möglich und das Leben zu retten sei. Die müsse er zuerst drannehmen. Furchtbar eine solche Entscheidung, und doch nicht anders möglich. Ich vertröstete den Medizinstudenten und blieb bei ihm, bis er bewußtlos wurde, was glücklicherweise bald der Fall war. -

Ende Januar kam der Befehl zum Rückzug. Generalfeldmarschall Schörner gab den Befehl zu spät, genau in dem Augenblick, als Tauwetter eintrat und der Boden aufweichte zu einem tiefen Morast. Alle Motorfahrzeuge versanken; achthundert sollen es bei der Division gewesen sein. Der Kfz.-Offizier, ein Hauptmann, ließ sich zuletzt noch mit seinem VW von zwei Pferden ziehen, bis sie es auch nicht mehr schafften. Auch der nagelneue Mercedes mit den blauen Samtbezügen, der den beiden Divisionspfarrern zur Verfügung stand, mußte mit Benzin übergossen und angezündet werden. Ich konnte nur mitnehmen, was ich tragen konnte. Auch meine Trompete, die auf einen LKW verladen worden war, ging verloren. Aber meine liebe Frau hatte schon eine neue bereit und schickte sie mir.

Da der Rückzug wegen des Schlammes so langsam vor sich ging, waren wir plötzlich eingeschlossen. Panzer schlugen eine Gasse, durch die wir herauskamen; aber die vielen, vielen Toten, die überall herumlagen!

Bald darauf kam der Divisionspfarrer zurück, und mein Einsatz bei der Division war zu Ende.


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H.-W. Leonhard