Hans Leonhard: Wieviel Leid erträgt ein Mensch.
Aufzeichnungen eines Kriegspfarrers über die Jahre 1939 - 1945.
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Kriegspfarrer (3)
Am Militärgefängnis
»Ein Kriegspfarrer! Ja, Sie kommen mir ja wie vom Himmel geschickt. Die ganze Umgebung such ich ab, alle Standorte rufe ich an, nirgends ein Pfarrer aufzutreiben, und nun kommen Sie!« So wurde ich noch bei keiner Stelle empfangen, und ich wollte doch nur einen Quartierschein. Warum hat man hier so Sehnsucht nach einem Pfarrer? Bevor ich mich von meinem Staunen über den freudigen Empfang durch den Hauptfeldwebel der Standortkommandantur erholt hatte, erfuhr ich den Grund der Freude: »Morgen früh um sechs Uhr haben wir eine Exekution, und da brauchen wir einen Pfarrer; melden Sie sich gleich beim Kommandanten des Militärgefängnisses!« So war das also, dazu brauchte man einen Pfarrer, da konnte niemand ihn ersetzen. Ich suchte schnell mein Quartier, stellte mein Gepäck ab und ging ins Gefängnis. »Militärgefängnis Dubno« las ich, als das schwere eiserne Tor sich auftat. Es war ein Militärgefängnis der Heeresgruppe Süd, früher in Dubno, jetzt in Tarnow. Ich meldete mich beim Kommandanten, sah die Akten an und machte mich auf den Weg. Noch ein paar eiserne Gittertore, und ich war drinnen. Anscheinend sind die Gefängnisse nach einem internationalen Plan gebaut. Ich hatte das gleiche in Frankreich gesehen und das gleiche in Weiden, wo ich 1933 drei Tage eine Zelle 'bewohnen' durfte. Links und rechts vom Gang ein eisernes Gitter bis hoch an die Decke, dahinter die Laufgänge mit den Türen zu den Zellen. Vom Eingang aus kann man sämtliche Zellentüren überblicken. Ich ließ mir die Zelle des Todeskandidaten zeigen, ging aber zuerst in ein paar andere Zellen. Ich habe das in der Folgezeit immer so gemacht. Es sollte durch meinen Besuch nicht bekannt werden, daß eine Exekution bevorstand. Es genügte meiner Ansicht nach, wenn es der Betreffende zwei Stunden von der Hinrichtung erfuhr. Als ich in die erste Zelle kam, erschrak ich. Ungefähr zwei mal vier Meter groß, an der Stirnseite unter dem kleinen vergitterten Fenster mit dem Blech davor, das jede Aussicht versperrte, eine Doppelpritsche. An der Längsseite eine einfache Pritsche (alle aus Holz), anschließend in der Ecke links neben der Tür der Kübel für die Notdurft. Rechts an der Wand ein kleines Tischchen mit zwei Hockern. Eine Zelle für zwei Mann, und als ich hineinkam, sprangen acht Mann auf. Zwei konnten auf den Hockern sitzen, die anderen auf den Pritschen. Drei konnten auf den Pritschen schlafen, die anderen auf dem Boden, die Füße unter der einen Pritsche. Sie durften nicht rauchen, nicht lesen, nicht schreiben, außer, ich glaube jede Woche einen Brief, der natürlich zensiert wurde; eine Stunde durften sie im Hof im Kreise gehen. Einen habe ich getroffen, der war ein Jahr in Untersuchungshaft, weil seine Papiere bei den ständigen Frontverlegungen nicht beizubringen waren. Er sagte mir, er sei fast verrückt geworden. Das Essen war sehr kärglich, satt konnte keiner werden. Acht Mann also sprangen auf, und einer machte Meldung. Ich winkte natürlich sofort ab,
stellte mich vor und sagte mein Sprüchlein, das ich schon so oft gesagt hatte, auch in den
Lazaretten, wenn man fragend auf meine Uniform sah: »Der Führer und seine Pfarrer tragen
keine Schulterstücke.« (Einmal hat mich ein Feldwebel auf der Straße angeredet: »Herr
Leutnant, entschuldigen Sie, Sie haben Ihre Schulterstücke vergessen.«) |
Ich bin zutiefst erschrocken, als ich das alles sah, nicht nur über die menschenunwürdigen Verhältnisse - die Notdurft durften sie nur hier verrichten! - nein, ich bin auch erschrocken bei dem Gedanken: Das also ist dein Arbeitsfeld! Denn das wußte ich sofort: Wenn die Arbeit im Lazarett schwer war und die Arbeit bei der Division, hier wird sie sehr, sehr schwer sein. Und sie wurde schwer, manchmal fast zu schwer. Und nun muß ich vielleicht doch berichtigen, was ich ein paar Seiten vorher geschrieben habe, vielleicht wurde mein Dienst doch hier am dankbarsten angenommen. Sie hatten sonst keinen Menschen, mit dem sie reden konnten, dem sie auch einmal einen Gruß auftragen konnten, wenn mir das auch streng verboten war, dem sie ihr Herz ausschütten konnten, der sie nicht als Verbrecher ansah oder gar anredete. Im Hauptamt war ich weiter Lazarettpfarrer, aber das Lazarett war nur schwach belegt, so daß ich die meiste Zeit im Gefängnis verbringen konnte. Es waren fünf- bis sechshundert Insassen, lauter deutsche Soldaten, davon etwa fünfzig zum Tode Verurteilte, die auf die Hinrichtung oder die Begnadigung warteten. Ich will es gleich sagen, es waren sehr, sehr wenige, die begnadigt wurden. Einmal kam mir ein ganz Junger auf dem Gang entgegen. Freudestrahlend rief er aus: »Herr Pfarrer, ich bin begnadigt ... zu zehn Jahren Zuchthaus.« Ach, der Arme! Zuchthaus bedeutete meist Strafkompanie, und Strafkompanie bedeutete fast immer Tod. Ich kenne keinen Kriegsteilnehmer, der die Strafkompanie überlebt hat, ausgenommen den einen, von dem ich schon erzählt habe, der den rechten Arm verloren hatte. Von einem weiß ich, daß er begnadigt wurde - ein Leutnant. Ich habe für ihn an seinen Ortsgruppenleiter geschrieben, der ist zum Kreisleiter usw., bis es vor den Führer gebracht worden ist. Immer wieder wurde ich auch gebeten, an die Schwester des Führers zu schreiben. Ich wußte vorher gar nicht, daß er eine Schwester hatte. Ich habe geschrieben, kein Brief kam zurück. Einmal wurde einer begnadigt, für den ich dorthin geschrieben hatte; ich weiß nicht, ob auf diesen Brief hin. - Die Gerichtsoffiziere hatten manchmal Tränen in den Augen, wenn sie nach einer Exekution sagten, sie hätten alles getan, um eine Begnadigung zu erreichen, aber immer komme zurück: »Begnadigung abgelehnt.« Das waren die großen Herren Generale, die (nach dem Krieg!) »nur auf Befehl« gehandelt haben. Was hatten sie verbrochen? Die meisten Fahnenflucht. Ganz junge Kerle waren es meist, die die Nerven verloren haben, wenn der Feuerhagel zu schlimm wurde. Siebzehneinhalb Jahre war der Jüngste alt, der hingerichtet worden ist. Ein Kapitänleutnant, zum Schützen degradiert, Strafkompanie. Strafkompanie, das muß ich zwischenhinein erwähnen, war wie ein Todeskommando. Sie hatten keine Waffen, wurden geschlagen, bekamen wenig zu essen; achtzig Pfund wogen die vier, von denen ich schon erzählt habe. Sie mußten gefährliche Aufträge erfüllen, vor allem Minen räumen. Wenn sie vom Feind eingesehen wurden, wurde auf sie geschossen. Wenn sie überlaufen wollten, wurden sie von hinten erschossen. Oft traten sie auf Minen und starben. Für andere Minen hat man abgerichtete Hunde eingesetzt, die man beschwerte, daß sie so schwer waren wie ein Mensch. Ein Feldwebel hat zu viel getrunken und etwas von der Verpflegung, die ihm anvertraut war, für sich genommen. Er weint, als er erzählt, daß er noch nie etwas Strafwürdiges getan habe und daß seine Frau ihm von dem einjährigen Kind schreibe, das blind sei und sich nun ständig stoße, nachdem es anfange zu laufen. Ein Leutnant, zum Tode verurteilt, später begnadigt: War bei der Artillerie, bei der Beobachtungsstelle hinter der Batteriestellung. Die Russen griffen von der Seite an, brachen zwischen ihm und der Geschützstellung durch, die Kanoniere liefen davon ohne die Geschütze unbrauchbar zu machen. Führerbefehl: »Wer ein Geschütz unbeschädigt dem Feind überläßt, wird mit dem Tode bestraft.« (So wenigstens hat es mir der Leutnant zitiert.) Ein Zahlmeister hat ein paar Packungen Zigaretten unberechtigterweise an das Offizierskasino gegeben. Eine Einheit kommt zurück in Ruhe in ein Dorf in Rußland oder Polen. Ein Soldat dringt in ein Haus ein, will die Frau vergewaltigen. Sie wehrt sich; er führt sie in den Garten hinaus, läßt sie eine Grube schaufeln und erschießt sie. Dann nimmt er die Tochter, die dabei sein mußte, droht ihr mit dem gleichen Schicksal, wenn sie ihm nicht zu Willen sei. Sie gibt sich ihm hin, trifft dann einen deutschen Offizier auf der Straße und erzählt ihm den Vorgang. Der Soldat wird zum Tode verurteilt. Vor seiner Hinrichtung schimpft er nur über Hitler, daß er solche Gesetze zulasse; aber war nicht auch Hitler mit schuld, für den die Menschen im Osten Untermenschen waren? Werner ... War auf Urlaub, sollte von dort zum Offizierskurs, blieb noch bei seiner Braut. Strafkompanie, Flucht. Horst ... 21 Jahre, Waisenkind mit zwei Jahren, Päckchenraub (hatte selbst keins bekommen). Gr. ... hat vier Kinder, zuerst verurteilt wegen Notzucht, dann von Strafabteilung geflüchtet. Hermann ... Selbstverstümmelung. Schuß durch Arm, hofft auf Heimaturlaub und Beförderung, hat Braut, von anderem Mädchen ein Kind von drei Jahren. Bauer, Tischler und Zimmermann. Will Hl. Abendmahl. - Es war Führerbefehl, daß einer, der Selbstverstümmelung verübt hat, zuerst gesund gepflegt werden müsse und dann erst hinzurichten sei. So war es auch bei diesem; er mußte monatelang auf seine Hinrichtung waren. Ein Kriegspfarrer erzählte mir, daß einem das Bein abgenommen, dann nachamputiert wurde, und er nach vollkommener Heilung mit Krücken zum Hinrichtungsplatz habe gehen müssen. Ein katholischer Kollege fragte mich einmal, was ich meine: Ein Verwundeter habe ihm gebeichtet, daß er sich die Verwundung selbst beigebracht habe, ob er nun die Rente annehmen dürfe? Der Kollege sagte ihm, daß er die Rente annehmen dürfe, weil er sich sonst selbst verriete, daß er sie aber nicht für sich verwenden dürfe, sondern guten Zwecken zuführen müsse. Paul ... Unteroffizier, EK I, auf Rückfahrt vom Urlaub sich einer Kolonne angeschlossen, plötzlich allein gelassen, Kolonne waren Partisanen. Wegen Fahnenflucht und Bandenverbindung zum Tode verurteilt. (Das konnte ich nicht nachprüfen.) Hermann ... gottgläubig, Mutter früh gestorben, wurde wegen Wachvergehen 1939 zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt (vorgeschriebene Route abgekürzt). Strafabteilung. Wegen Behandlung geflohen. Fahnenflucht. Günter ... 20 Jahre alt, Matrose, am Atlantikwall eingesetzt, steigt verbotenerweise auf einen Hügel, unter dem ein Geschütz verborgen war, wird vom wachhabenden Offizier sofort verhaftet, zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, kommt zur Strafabteilung, wird geschlagen, beschwert sich, Beschwerde zerrissen, wird wieder geschlagen, flieht, nachdem seine Bitte, mit dem Kommandeur sprechen zu dürfen, abgelehnt worden war. Wird verhaftet, ein anderer verführt ihn noch einmal zur Flucht. Der andere wird standrechtlich erschossen, er zum Tode verurteilt wegen Fahnenflucht. Den letzten Brief der Mutter kurz vor der Hinrichtung erhalten. Der Vater ist, so sagte mir Günter, Corvettenkapitän a. D., Arbeitsdienstführer (und Stadtkommandant einer westdeutschen Stadt). 20.6.44 Lieber Günter! Deinen Brief vom 23. erhielten wir heute. So lange keine Post und nun diese Nachricht. Stunden grübeln wir schon, was nun werden soll. Vater läßt keine Hoffnung. Genau kennt er die harten Gesetze. Die Sorge um Dich und seine Stellung (!) läßt ihn fast verzweifeln. Oftmals wagt niemand, Deinen Namen auszusprechen, um nicht an die Sorge zu erinnern, die wir um Dich trugen und tragen. Wie anders könnte alles sein! - An den Führer Deiner alten Feldpostnummer wandte ich mich. Vor 14 Tagen bekam ich Antwort und mußte mir selbst eingestehen, wie glücklich ich war, zu hören, daß Du noch lebst, doch im Gefängnis. Ja, das ist schwer, auch für uns, und Du hättest es verhüten können. Wärst längst einmal zu Hause gewesen. Wie oft sprechen wir davon, sehnten den Tag herbei. So sind 2 Wochen verflossen, und wer weiß, wie es nun wird. ... (Folgen ein paar Nachrichten von Bekannten, dann:) Die Welt ist voll Leid und Kummer, und uns drückt das Schicksal, einen ungeratenen Sohn zu haben. In Deiner Hand lag alles, Dein hartes Los zu ändern. Im Gefängnis gibt es nur Pflichten und keine Rechte. Das mußtest Du eher überlegen und hättest Dir und uns die Schande ersparen können, und wer weiß, ob nicht eines guten Tages das harte Urteil gefällt und ausgeführt wird, das Dich auslöscht und uns lebenslänglich begleitet. Günter, niemand wünscht mehr als ich, daß sich alles zum Guten wenden möge. Wie sind in Gedanken bei Dir und grüßen Dich herzlichst Deine Eltern Am Rand des Briefbogens: Günter, auch von mir einen Gruß. Ich hoffe, daß es nicht der letzte sein muß. Tun kann ich nichts mehr für Dich. Dein Vater In einem späteren Brief hat die Mutter mir dann mitgeteilt, daß der Vater doch ein Gnadengesuch eingereicht habe. Es kam zu spät oder wurde abgelehnt. - Von der Exekution später. Tag für Tag war ich im Gefängnis, oft auch am Abend, damit es nicht auffiel, wenn ich am Vorabend einer Exekution kam. Ich hatte die Erlaubnis, mit den Gefangenen zu rauchen, was sie sonst nie durften. So habe ich überall Rauchwaren zusammengebettelt und dann eben eine Zigarette oder ein Zigarillo angeraucht und weitergegeben. Fast alle baten mich, an die Angehörigen zu schreiben und die Antwort zu überbringen. Wieder habe ich meine Stellung riskiert und getan, was strengstens verboten war. Herzzerreißende Briefe bekam ich. Ich habe mehrere aufgehoben und noch einmal gelesen (1975) und vernichtet. Die Angehörigen, auch einige Bräute, haben geschrieben, konnten es einfach nicht glauben, daß ihr Mann oder Sohn oder Bräutigam etwas getan habe, was ihn ins Gefängnis brachte oder gar das Todesurteil zur Folge hatte. Nur ein paar Frauen schrieben ganz gemein, eine ordinär, sie habe längst einen anderen, bei dem alles viel schöner sei. Die Braut des einen, der wegen Mordes an der Polenfrau und wegen Notzucht zum Tode verurteilt worden war, beschwor mich, ihr doch Näheres zu schreiben. Sie schilderte ihren Bräutigam als einen so ganz lieben Menschen und konnte nicht glauben, daß er wirklich schuldig war. Ich habe mir lange überlegt, was ich tun solle, habe ihr dann aber die Wahrheit geschrieben, weil ich glaubte - und ich glaube es auch heute noch - daß ihr dann alles leichter fallen würde. Einmal schrie aus einem Fenster im obersten Stockwerk, in einem anderen Trakt des Gefängnisses, laut ein Mann: »Der Kriegspfarrer soll kommen«! Er warf einen Zettel in einer kleinen Brotkugel zusammengeknüllt auf den Hof, wo gerade ein Trupp im Kreise ging, auf dem das gleiche stand. Ich bekam die Erlaubnis, den Mann zu besuchen, obwohl er in dem Teil des Gefängnisses untergebracht war, wo die Zivilgefangenen waren und wo ich eigentlich keinen Zutritt hatte. Ich weiß nicht mehr, warum er dort untergebracht war. Er hatte sich bei einer polnischen Familie aufgehalten - vielleicht waren es Partisanen - und wurde dort verhaftet. Ich ging in die Zelle, er saß auf einem Schemel, die Hände mit einer Kette aneinandergefesselt. Es gibt Bilder, die sich so tief im Herzen einprägen, daß man sie sein Leben lang nicht auslöschen kann. Ich sehe den Mann so deutlich vor mir, als wenn alles erst gestern gewesen wäre. Er beschwor mich und bettelte, ich möchte ihm doch helfen, er sei doch unschuldig. Ich habe alles versucht, habe aber nichts erreicht. Er unterstand der Gerichtsbarkeit der deutschen Zivilverwaltung, und diese Herren wollten mit einem Kriegspfarrer nichts zu tun haben. Er wurde dann bald darauf mit Polen zusammen hingerichtet. Immer, wenn ein Attentat auf einen Deutschen verübt wurde, wurden zehn Geiseln erschossen und wahllos wieder zehn Polen verhaftet. - Im großen Gang im Parterre habe ich meine Gottesdienste gehalten; fast alle sind sie gekommen. Nie war der Gesang so mächtig wie hier. Für vierhundertfünfzig reichten natürlich meine Feldgesangbücher nicht aus, aber sie sahen zusammen hinein und sangen mit, auch die Katholiken. An eine Abendmahlsfeier erinnere ich mich besonders, die ich nach einem Gottesdienst gehalten habe. Ein paar Hundert waren es, die dablieben und als Erster ging mit ein paar Gefangenen zusammen der Kommandant des Gefängnisses an den Tisch, den ich als Altar gerichtet hatte. Ich habe die Choräle mit meiner Trompete begleitet, aber die hörte man bei diesem Gesang nicht mehr. - Oft am Abend spielte ich im Gang auf meiner Trompete, und immer wieder wurde mir gesagt, wie sich alle darüber freuten, bis mir der Kommandant (es war jetzt ein anderer) sagte, das sei gegen die Vorschrift, nach der alles 'Lärmen' verboten sei. Ein katholischer Kriegspfarrer tat eine Zeitlang zugleich mit mir Dienst im Gefängnis, bis ihn alle geschlossen ablehnten. Er redete sie als Verbrecher an; einen solchen Pfarrer wollten sie nicht. Einige zum Tode Verurteilte sagten, sie wollten lieber allein sterben als mit seinem Beistand. Einer verlangte früh um vier Uhr, als ihm eröffnet wurde, daß das Urteil um sechs Uhr vollstreckt werde, nach mir, obwohl er Katholik war. Aber da war der katholische Kollege schon da, und ich konnte nicht mehr so schnell verständigt werden. Das tat mir leid, und ich habe auf viele Bitten hin erwirkt, daß von jetzt an mein Freund Breinbauer diesen Dienst tun durfte. Oft sind wir in der Morgenfrühe miteinander ins Gefängnis gegangen, um unseres schweren Amtes zu walten. Er war der einzige von den katholischen Kollegen, die ich getroffen habe, mit dem ich, was unseren Dienst anbelangte, ganz eins gewesen war. * Ich komme in eine Zelle mit acht Mann. Es war gleich am ersten oder zweiten Tag meines Dienstes im Gefängnis; und damit komme ich an den Anfang meines Berichtes zurück. Da sagte einer ungefähr folgendes, nachdem ich mich vorgestellt hatte: »Herr Pfarrer, ich bin Kommunist. Ich habe die Konsequenzen gezogen und bin aus der Kirche ausgetreten; aber ich werde Ihnen in keiner Weise hinderlich sein. Reden Sie mit den jungen Kameraden, sie werden es vielleicht brauchen.« Er war fünfzig Jahre alt, war wegen seiner kommunistischen Tätigkeit eingesperrt worden, wurde aber dann entlassen, weil er sich bereit erklärte, an die Front zu gehen, allerdings unter der Bedingung, nicht im Osten eingesetzt zu werden, da er nicht gegen die Russen kämpfen werde. Er kam an die russische Front, war auf Posten und sagte dem Wachhabenden, er werde nicht schießen, wenn die Russen angriffen. Daraufhin wurde er verhaftet, vor das Kriegsgericht gestellt und zum Tode verurteilt. Nach einigen Wochen - ich war oft in seiner Zelle, er hat sich immer vollkommen ruhig verhalten - bat er mich, mit mir sprechen zu dürfen. Ich nahm ihn mit hinaus auf den Gang, und er sagte nun - ich glaube, ich weiß es noch wörtlich -: »Herr Pfarrer, ich habe Ihnen gesagt, wie ich stehe, ich habe meine Meinung noch nicht geändert, aber nun denken Sie: Früh um vier Uhr hört man Schritte auf dem Gang. Alle acht in der Zelle schrecken auf und starren auf die Tür. Der Schlüssel wird ins Schloß gesteckt, und der Wachsoldat kommt herein. Alle starren nur auf ihn, wen wird er rufen? Und der eine, den er ruft, steht auf, gibt jedem die Hand und verschenkt die paar Kleinigkeiten, die er hat, und geht mit. Wir alle wissen, daß er nicht mehr zurückkommt. Sehen Sie, Herr Pfarrer, das habe ich jetzt acht Mal erlebt! Ich weiß nicht, ob ich durchhalten kann, wenn ich gerufen werde. Ich bitte sie, gehen Sie mit mir, wenn so weit ist.« Selbstverständlich habe ich es ihm versprochen. Es ist nicht so weit gekommen, das Gefängnis wurde verlegt. Ich kam an einen anderen Standort. Aber nach einigen Wochen bekam ich eine Karte von ihm, daß er noch einmal zur Frontbewährung begnadigt worden sei. Ich habe mich nach dem Kriege in seiner Heimatstadt erkundigt, aber nichts über ihn in Erfahrung bringen können. - Und nun zum Schwersten, was ich erlebt habe. [Weiter im Text] Anordnung zur Vollstreckung eines
Todesurteils Abschrift:
Es war beim ersten Todeskandidaten so, wie dann bei allen anderen. Es waren ungefähr dreißig, die ich begleitete. Bei der deutschen Wehrmacht ging alles nach der HDV, der Heeresdienstvorschrift. Bis auf die kleinste Kleinigkeit war alles festgelegt. (Vgl. den Vollstreckungsbefehl) Am Vortage erhielt ich den Befehl ausgehändigt, am Abend ging ich ins Gefängnis, wie gesagt, zuerst in einige andere Zellen, dann in die, in der Betreffende war und blieb dort wohl ein wenig länger, aber nicht so lange, daß es auffiel. Es war Vorschrift, daß dem zum Tode Verurteilten spätestens zwei Stunden vor der Vollstreckung das Urteil mitgeteilt werden müsse. Ich war mit dem Gericht mit diesem letzten Termin einverstanden. Anderswo wurde es am Abend vorher mitgeteilt (s. Goes: Unruhige Nacht). Einige Minuten vor vier Uhr war ich im Gefängnis und wartete in einem Zimmer auf den Todeskandidaten (das ist kein schönes Wort, aber ich weiß nicht, wie ich sonst schreiben soll). Der Kommandant des Gefängnisses - umgeschnallt und Stahlhelm - las das Urteil noch einmal vor und sagte dann: »Das Gnadengesuch ist abgelehnt, das Urteil wird um sechs Uhr vollstreckt. Der Herr Kriegspfarrer wird bei Ihnen bleiben und Sie zur Hinrichtungsstätte begleiten.« Wir setzten uns, ein Wachsoldat stellte einen Teller mit Brot und Wurst auf den Tisch und ging wieder. Ich wußte, daß er vor der Tür Wache stand. - Von den Minuten, die nun folgten, will ich schweigen. ... Dann fragte ich, immer nur ganz zaghaft, ob er - manchmal waren es auch zwei - nicht etwas essen wolle. Ein Englischlehrer, der oft mit uns in der Abiturklasse über alles mögliche sprach, sagte einmal: »Wenn Ihnen einer sagt, daß Sie in einer Stunde sterben werden, werden Sie keinen Bissen mehr essen können.« Wir dachten damals, eine solche Binsenweisheit bräuchte er uns nicht zu sagen. Vielleicht meint das auch jeder, der diese Zeilen liest. Aber ... sie haben fast alle gegessen, nicht viel, aber doch etwas. Nun muß man sich vorstellen: Ein Mensch bekommt wochenlang oder monatelang nur das Allernötigste zu essen. Er hat immer Hunger; da wird der Urtrieb des Menschen immer größer, er will nur essen, nur essen. Und nun steht da auf einmal vor ihm, was er seit langem nicht mehr gesehen hat: ein Teller voll Wurst! Ich will nichts mehr weiter sagen, ich war froh, daß sie etwas aßen. Ich war auch froh, wenn einer, der Raucher war, nun eine Zigarette nahm. Dann fragte ich sie, ob sie noch wenigstens ein paar Worte an die Angehörigen schreiben wollten. Einige taten es, einige trugen mir auf, was ich schreiben solle, wieder andere schwiegen. Über das, was wir dann miteinander redeten, brauche ich wohl nichts zu sagen. Nur von einem: Als ich den Namen Jesus erwähnte, sagte er, von Jesus wisse er nichts. Er sei als kleiner Bub an einen Onkel gegeben worden, der habe gesagt, er solle einmal selbst entscheiden, ob er zur Kirche gehören wolle oder nicht; er habe deshalb keinen Religionsunterricht besucht. Dann sei er zur Hitlerjugend gekommen, zum Arbeitsdienst und zum Militär. Ich habe angefangen mit dem Wort Jesu am Kreuz: »Wahrlich, wahrlich, ich sage Dir, heute wirst mir mit im Paradiese sein.« - Ganz zuletzt, einen Augenblick vor seinem Ende, nachdem ich das kurze Gebet wie mit allen anderen gesprochen hatte, drückt er nochmal ganz fest meine Hand und sagte: »Herr Pastor, ich glaube, was Sie mir gesagt haben.« Ich dachte an das Wort Jesu von den Arbeitern im Weinberg, die in der elften Stunde in den Weinberg kamen. Mit einigen habe ich das Heilige Abendmahl gefeiert, mit allen konnte ich es nicht. Ich mußte immer heimlich auf die Uhr schauen, denn um dreiviertel sechs Uhr klopfte es an die Tür und das bedeutete, daß es Zeit sei. Es wurden Handschellen angelegt, und das tat mir immer besonders weh, wo es doch wirklich nicht nötig gewesen wäre. Dann stiegen wir auf den Lastwagen; ich saß auf der Bank mit dem zu Tode Verurteilten. Weiter hinten zwei oder auch mehr Wachsoldaten mit dem Gewehr. Auf dem Richtplatz, einer ehemaligen Sandgrube - jetzt Schießplatz - ein Stück vor der Stadt, war schon alles genau nach Vorschrift vorbereitet. Das Exekutionskommando, zehn Soldaten mit einem Offizier, ein paar Meter entfernt an der Seite der Gerichtsoffizier, ein Arzt, der Leiter des Vollzugsverfahrens, dazu ein Dienstgrad, meistens ein Unteroffizier, mit geladener Pistole für einen eventuell notwendigen Nachschuß und einige andere. Der Verurteilte wird an den Pfahl, fünf Meter vom Exekutionskommando entfernt, gebunden, die Handfesseln abgenommen und die Augen verbunden. Ich habe ihnen immer gesagt, sie könnten das verweigern, möchten es aber nicht tun, weil es dann den Soldaten noch schwerer fiele, zu schießen als so schon. Zuerst hat das immer ein Kommando der Landesschützen gemacht und dann, als die sich weigerten, ein Kommando des Wehrmachtsgefängnisses. Der Gerichtsoffizier verlas noch einmal das Urteil. Dann habe ich die Hände des Verurteilen gefaßt, die sie immer ganz fest drückten, und habe gebetet: »Herr Jesu, dir leb ich, Herr Jesu, dir sterb ich, Herr Jesu, dein bin ich tot und lebendig, mache mich selig. Amen.«, bin ein paar Schritte auf die Seite gegangen, und alles war vorbei. Sie sind alle bis auf einen ganz standhaft gestorben. Ein Kriegsgerichtsrat hat mir nach einer Exekution einmal gesagt, alle wunderten sich über diese Standhaftigkeit. Aber er habe ihnen schon immer wieder gesagt, daran seien die Pfarrer schuld (so sagt man ja, wenn man auch nicht Schuld meint). Er war aus München. - Der eine, der anders gestorben ist, war der, dessen Mutter den Brief geschrieben hatte, den ich abgeschrieben habe. Er hat sich an mir festgekrallt, daß ein Leutnant mir helfen mußte und dann selbst kaum loskam. Ich schreibe auch das, damit jeder, der es liest weiß, was »Krieg« heißt und was das Wort oder die Liebe von Eltern bedeuten kann. - Ich bin mit auf den Zivilfriedhof und habe am Grab ein Vaterunser gebetet. Polen haben den Sarg in die Erde versenkt. - Ich muß noch hinzufügen: alle zehn schossen aufs Herz, d. h. auf den roten Stoffetzen, den der Arzt anheftete; keiner auf den Kopf, wie immer gesagt worden ist. Es waren auch alle zehn Gewehre geladen, nicht nur eines, wie auch immer wieder behauptet wurde. Ich habe dann gleich an die Angehörigen geschrieben, obwohl das auch gegen die Vorschrift war. Aber der Vorsitzende des Kriegsgerichtes, ein Oberkriegsgerichtsrat, auch aus München, hat mich darum gebeten und gesagt, er übernehme die Verantwortung dafür. Das Gericht hat erst später an den Bürgermeister - nicht wie bei Gefallenen an den Ortsgruppenleiter - nur die amtliche Todesmeldung übersandt. Es wurde uns Kriegspfarrern verboten, zu schreiben, es sei einer »tapfer« gestorben. »Tapfer« sterbe kein zum Tode Verurteilter.
Zwei Erlebnisse in Tarnow: Vor mir ging auf dem Gehsteig ein Deutscher in brauner Uniform. Ich glaube, »Goldfasane« nannte man diese Leute. Ein Pole kam ihm entgegen. Man sah es ihm an, daß er ein gebildeter Mann war. Er wich nicht schnell genug aus, d. h. er ging nicht schnell genug vom Gehsteig herunter. Da gab ihm der Deutsche eine schallende Ohrfeige. - Niemand soll sich wundern über das, was nach dem Zusammenbruch in Polen geschehen ist. Fast die ganze polnische Intelligenz war ausgerottet. Die braunen Männer haben ja wohl rechtzeitig ihre Koffer gepackt, aber andere mußten es büßen. - Eines Tages war der Internist unseres Lazarettes, ein Stabsarzt, verschwunden. Wie fürchteten schon das Schlimmste, als er plötzlich wieder auftauchte. Er war von Partisanen entführt worden und mußte einen Kranken behandeln. Alle Arzneien, die er brauchte, wurden besorgt. Er wurde gut behandelt und sehr gut verpflegt. Als sie ihn dann nach ein paar Tagen zurückbringen wollten, sagte er, bei der deutschen Wehrmacht sei es üblich, daß man Marschverpflegung mitbekomme. Darauf haben sie ihm ein Paket mit lauter guten Sachen mitgegeben. Ich war dabei, als er es auspackte.
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