Hans Leonhard: Wieviel Leid erträgt ein Mensch.
Aufzeichnungen eines Kriegspfarrers über die Jahre 1939 - 1945.
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Kriegspfarrer (4)
Kriegsende Von Tarnow wurde unser Lazarett nach Saybusch verlegt und von dort kam ich nach Neustadt in Oberschlesien an ein anderes Kriegslazarett. Dort habe ich erlebt, wie die Insassen des KZ Auschwitz zurückgetrieben wurden; anders kann man es nicht ausdrücken. Unsere beiden Häuser lagen auf beiden Seiten der Straße, auf der tagelang der Zug dahintaumelte. Männer, Frauen, Alte und Junge in ihren dünnen gestreiften Sträflingsanzügen, an den Füßen oft nur ein paar Lappen, bei eisiger Kälte im Januar 1945. Ein alter Mann konnte nicht mehr. Ein SS-Mann schlug ihn mit seinem Knüppel über den Kopf. Zwei haben ihn gestützt, dann fiel er doch zu Boden. Die beiden waren ja auch abgemagert zum Skelett. Der noch ganz junge SS-Mann zog kaltblütig seine Pistole und erschoß ihn. Er blieb einfach liegen. Die ganze Straße bis zur nächsten Stadt, so erzählten die LKW-Fahrer des Lazaretts, war besät von Toten. Die Wagen fuhren einfach darüber weg. Ich habe versucht, mit einem SS-Mann zu reden. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte mich auch erschossen. Nach dem Krieg in den Prozessen dann immer dasselbe: »Auf Befehl gehandelt.« - In Neustadt war es dann auch, als ein Stabsarzt eine Einheit besuchte, die gegen die Partisanen eingesetzt war. Als er zurückkam, erzählte er im Kasino, wie man dort gefangene Partisanen dazu bringe, die Schlupfwinkel ihrer Kameraden zu verraten. Man band ihnen die Hände auf den Rücken zusammen und zog sie an einem Strich über einen Haken an der Decke empor bis sie brüllten vor Schmerz. Dann ließ man sie wieder ein wenig los und fragte nach den Verstecken. Das wiederholten sie so lange, bis sie alles verrieten. - Der Stabsarzt erzählte das lachend; er war ja auch der NS-Führungsoffizier des Lazarettes! - Und da gibt es heute noch Leute, die sagen: »Einen Hitler müßten wir haben, der sorgte für Ordnung!« Ein Massenmörder, der Ordnung schafft?! * Die Stadt wurde evakuiert, das Kriegslazarett nach Bad-Podiebrad in die CSSR verlegt. Ich blieb noch auf eigene Verantwortung bei einem Feldlazarett mit vielen Verwundeten, bis auch dieses zurückverlegt wurde. Dann ging auch ich nach Bad-Podiebrad. Ich hatte hier viel zu tun in den Lazaretten, hielt daneben aber auch viele Gottesdienste für die vielen Flüchtlinge aus Schlesien und auch aus Ostpreußen, die überall in Massenquartieren untergebracht waren, konfirmierte ein Mädchen und habe viele, vor allem viele, viele Kinder beerdigt. Oft war ich beim dortigen Pfarrer, Dr. Jeschke, der eine Schweizerin zur Frau hatte und fließend deutsch sprach. Während des »Prager Frühlings« war er dann bei uns in Neunkirchen zu Besuch und hat zwei Gottesdienste, d. h. zwei Predigten gehalten, wie ich noch kaum welche gehört habe. Hat in einem Gemeindeabend gesprochen und auf der Pfarrkonferenz. Er war mittlerweile Professor für praktische Theologie in Prag geworden. - An einem der letzten Abende vor dem Zusammenbruch hielt der Stadtkommandant auf dem Marktplatz vor allen Truppen eine flammende Ansprache vom »geliebten Führer in seinen schweren Stunden«, vom »Standhalten bis zum Tode« usw. usw. Am nächsten Morgen ging ich zur Standortskommandantur, weil ich einige Leute zum Gräbermachen brauchte. Da standen tschechische Soldaten vor dem Schloßtor. Der heldenhafte Kommandant war in der Nacht davon. Ich ging ins Rathaus und stand plötzlich in einem Zimmer vor einem tschechischen General und einigen tschechischen Offizieren in voller Uniform. Da ist es mir schon etwas anders geworden. Der General fragte nach meinem Anliegen und versprach, Leute auf den Friedhof zu beordern. Gekommen ist aber niemand. So habe ich noch einige Leichtverwundete aus dem Lazarett geholt, und wir haben miteinander die letzten Toten beerdigt. Am Abend wollte ich mit einigen Feldunterärzten davon. Wir hatten auch schon einen Kahn organisiert, um über die Elbe zu kommen. Ich blieb aber dann doch noch zurück, weil noch Verwundete im Lazarett waren. Einer der Unterärzte bat mich ganz dringend um meinen Kompaß. Ich hatte ihn jahrelang bei mir getragen, weil ich wußte, daß ich ihn einmal brauchen werde. Er meinte aber, ich käme auch so heim; so habe ich ihn zuletzt doch gegeben. Als unser Wolfgang, der 1964 in der Klinik in Würzburg gestorben ist, sich als Medizinstudent zum Präparierkurs beim Professor für Anatomie anmeldete und seinen Namen sagte, entgegnete dieser sofort: »Dann kenne ich Ihren Vater.« Es war der Unterarzt, dem ich den Kompaß gegeben hatte. |
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Zum letzten Kapitel: Flucht und Heimkehr
Ich freue mich über jeden |