Hans Leonhard: Wieviel Leid erträgt ein Mensch.
Aufzeichnungen eines Kriegspfarrers über die Jahre 1939 - 1945.
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Kriegspfarrer (1)
Kriegspfarrer Im Lazarett Kriegspfarrer a. K., d. h. Kriegspfarrer auf Kriegsdauer, gab es erst sei Beginn des Krieges. Jede Division, außer der Luftwaffe und der SS, hatte einen Divisionspfarrer, der aktiv war. Die Kriegspfarrer a. K. wurden, vor allem am Anfang, in den Kriegslazaretten eingesetzt. Ich kam zusammen mit dem katholischen Pfarrer Breinbauer an das Kriegslarazett in Arras, mußte aber die Truppen am Ort und in der Umgebung, sowie das Luftwaffenlazarett, mitbetreuen, außerdem das von der deutschen Besatzungsmacht verwaltete Gefängnis. Ein Franzose war zum Tode verurteilt, weil er einem englischen Soldaten eine Nacht Unterschlupf gewährt hatte, wurde aber später begnadigt. Manche Ärzte waren der Kirche nicht sehr gewogen, machten mir aber keine Schwierigkeiten, wenn sie auch unsere Arbeit oft nur als Sterbehilfe ansahen. Hier hörte ich auch zum ersten Mal das Wort, das ich dann in den folgenden Jahren noch oft hören mußte: »Ein Fall für Sie«; wenn ihre Kunst am Ende war, durften wir uns um die Kranken kümmern. Ich möchte aber doch erwähnen, daß auch viele Ärzte - evangelische und katholische - unsere Arbeit, wo immer es ging, unterstützten. * Ein Kranker war im Lazarett, der über Schmerzen am Knie klagte. Alle verschiedenen Fachärzte untersuchten ihn, fanden aber nichts, so daß sie ihn für einen Simulanten hielten. Ärzte, Sanitäter, Schwestern redeten ihn ständig als Feigling an, der sich vor der Front drücken wolle. Ich redete auch mit ihm; er hat mir immer nur beteuert, daß er Schmerzen habe. Nach einem Fliegeralarm, bei dem alle im Keller waren, wurde er vermißt. Man fand ihn im Keller, er hatte sich erhängt. Dann kam der Pathologe aus Brüssel, der nun das Knie genau untersuchen konnte. Wie etwas ganz Nebensächliches erzählte er im Kasino beim Essen, daß das Knie krank gewesen sei und der Patient schon Schmerzen gehabt haben müsse. Trotzdem wurde er nicht mit militärischen Ehren begraben, sondern ohne alle Feier in einer Ecke des Zivilfriedhofes. Ich hätte auch nicht mitgehen dürfen, bin aber doch mit und habe mit den Trägern gebetet und den Segen gesprochen. Neben dem Grab lag schon ein anderer begraben, auf dem Grabhügel lag ein Neues Testament. - Meine Gottesdienste waren, wie auch später, gut, oft sehr gut besucht, vor allem wohl deshalb, weil ich mich nie auf allgemeine Einladungen verließ, sondern soweit als irgend möglich persönlich einlud. - Von Arras kam ich zur Standortkommandantur in Arlon in Belgien an der Grenze zu Luxemburg. Dort hatte ich vor allem ein Ersatzbataillon zu betreuen und die Lazarette in Luxemburg. Der Kommandeur des Bataillons, ein Ostpreuße, kam oft zum Gottesdienst; deshalb kamen auch die Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften. Immer spielte die Militärkapelle im evangelischen Gottesdienst, obwohl die Katholiken in der Überzahl waren. »Wo ich bin, ist auch meine Kapelle«, sagte der Oberst. Gleich vor dem ersten Gottesdienst wurde mir der Wunsch des Oberst gesagt: Er wünsche in jedem Gottesdienst den Vers: »Und wenn die Welt voll Teufel wär.« Vor seiner Pensionierung hatte er noch den besonderen Wunsch, es sollte ein
Gemeinschaftsgottesdienst gehalten werden, selbstverständlich mit dem Lied »Ein feste
Burg«, diesmal alle Verse. Breinbauer war einverstanden; so konnte der Gottesdienst
stattfinden, obwohl das von den Kirchen eigentlich nicht gestattet war. Ich habe die Predigt
gehalten, Breinbauer die Liturgie, der spätere Kirchenmusikdirektor Wünsch aus Augsburg
hat die Orgel gespielt. Über zwölfhundert Soldaten waren da. Wir waren dann noch zu einem
Abschiedsessen eingeladen. Der Oberst sagte, er habe seiner Haushälterin befohlen, ihm zu
melden, wenn der Krieg zu Ende sei, sonst wolle er nichts mehr hören. - |
In Arlon mußte ich auch einmal als Pflichtverteidiger in einem Kriegsgerichtsprozeß fungieren. Ein belgischer Bahnbeamter war angeklagt, vom Inhalt der Eisenbahnzüge zum Atlantikwall erzählt zu haben, und zwar zu den Männern, die in Funkverbindung mit England standen. Der Mann wurde erst kurz vor Mitternacht von Namur nach Arlon gebracht; so mußte ich um Mitternacht mit ihm im Gefängnis reden. Obwohl er kein Wort deutsch konnte und ich kaum französisch, konnte ich ihm doch klarmachen, um was es ging, nämlich, daß er nur so erzählt habe, was er gesehen, aber nicht gewußt habe, daß das nach England weitergegeben würde. Er wurde freigesprochen. Herr Klein, beim dem ich wohnte, hat nach vielen Jahren unserem Wolfgang, der ihn besuchte, davon erzählt. - Von Arlon aus wurde ich einer Kriegslazarettabteilung zugeteilt, die in Paris zusammengestellt wurde und dann nach Rußland kam. Mit drei evangelischen Kriegspfarrern zusammen war ein kleines Eisenbahncupee für fast vierzehn Tage von Paris mit Makejewka meine Unterkunft. Ich habe im Gepäcknetz geschlafen. Jeden Morgen und jeden Abend habe ich mit meiner Trompete einen Choral und manchmal auch noch Volkslieder zum Fenster hinausgeblasen. Mitten auf freier Strecke habe ich in Rußland für die ganze Lazarettabteilung (3 Kriegslazarette) einen Feldgottesdienst gehalten, zu dem fast alle kamen. Ein Arzt sagte mir später, das sei der eindrucksvollste Gottesdienst gewesen, den er seit langer Zeit erlebt habe. Die anderen Kriegspfarrer hatten es nicht gewagt, ich habe vorher mit ihnen gesprochen. Die katholischen Pfarrer, das habe ich noch oft erlebt, hielten nie gerne Gottesdienst, wenn auch evangelische Soldaten mit dabei waren. Ein Gottesdienst ohne Meßopfer ist für sie kein richtiger Gottesdienst. Unser erster Einsatz in Rußland ist Rostov - 1942. Viele Verwundete aus Stalingrad. Kein Licht, nur in den Operationsräumen Notbeleuchtung. In vielen Räumen kalt. Ich gehe von früh bis abends von einem Zimmer zum anderen. Es ist besonders schwer, mit denen zu reden, die ohne Heimaturlaub wieder nach Stalingrad eingeflogen werden. Schreckliche Szenen werden aus Stalingrad geschildert, besonders wenn ein Flugzeug mit Verwundeten abfliegt und viele zurückbleiben müssen. An Weihnachten gehe ich den ganzen Tag über von einem Zimmer zum anderen, verlese das Weihnachtsevangelium und spreche ein paar Wort. Von daheim haben die meisten keine Nachricht. Am Abend noch ein Gottesdienst für die, die aufstehen können. Ein großes Spruchband, trotz allem, »Friede auf Erden«. Ein Soldat aus München hat sich im Laufe des Tages zu mir gesellt und spielt auf einer russischen Trompete zweite Stimme. Als ich spät am Abend in mein Zimmer komme, steht ein Christbaum, aus einem Besenstiel mit Fichtenzweigen von Kameraden aus einem Zimmer gefertigt, auf meinem Tisch. Als keine Verwundeten mehr aus Stalingrad ausgeflogen werden können, wird unser Lazarett zurückverlegt. Der Güterwagen, in dem Breinbauer und ich und noch ein paar untergebracht sind, wird an einen falschen Zug, einen sog. Räumungszug, angehängt und wir fahren nach Münster. Von dort Urlaub und dann nach Dnjepropetrowsk. - Hier wieder wie in Rostov Schwerverwundetenlazarett, über zweitausend Verwundete. Viele sterben, an einem Tag oft mehr als zehn, einmal vierundzwanzig. Wir gehen beide, Breinbauer, der katholische Kriegspfarrer, und ich den ganzen Tag durch die Lazarette, es sind mehrere Gebäude, schreiben Briefe an die Angehörigen, beten, drücken die Augen zu. Bei einer Kriegspfarrerzusammenkunft wurde bekannt, daß manche Pfarrer ein vervielfältigtes Schreiben an die Angehörigen schickten. Das wurde vom Feldbischof verboten. Ein Lazarettpfarrer meinte, man kenne doch die wenigsten Verstorbenen. Ich kenne jeden, der nicht nur ein paar Stunden im Lazarett war. Manchmal komme ich in ein Zimmer, Breinbauer sitzt am Bett eines Sterbenden und liest aus dem evangelischen Gesangbuch vor, steht still auf und macht mir Platz. Er hat es etwas leichter, da mehrere katholische Pfarrer als Sanitäter da sind und immer wieder aushelfen. Ein evangelischer Pfarrer, der auch aushelfen sollte, sagte gerade zu einem Schwerverwundeten, als ich dazukam, er solle sich vorbereiten, denn er müsse bald sterben. Auf seine Mithilfe habe ich verzichtet. - Manchmal ist es schwer, sich recht zu verhalten, die Verwundeten schimpfen über den Krieg, über Hitler, sagen offen ihre Meinung über den »Endsieg«. Kann ich riskieren, daß mich einer anzeigt, wenn ich meine Meinung sage? Haben die Verwundeten weiter Vertrauen, wenn ich schweige? »Herr Pfarrer, hören Sie«, ruft einer und liest aus einem Heftchen, das der Ortsgruppenleiter, der daheim die Stellung halten muß, geschickt hat: »Und wenn ich einmal sterben muß, dann will ich lachend sterben!« Höhnisch wiederholen es die anderen: »Dann will ich lachend sterben.« Ein Sanitäter winkt mich hinaus und warnt mich: »Im Nebenzimmer liegen Offiziere, einer schreibt mit, was Sie sagen.« - In Breinbauer, mit dem mich im Laufe der schweren Jahre unserer gemeinsamen Arbeit eine tiefe Freundschaft verbunden hat, lerne ich auch die katholische Kirche kennen. Er geht am Abend, wenn es dunkel ist in den Sälen, mit seiner Taschenlampe durchs Haus und gibt den Sterbenden die Letzte Ölung. Die Angehörigen sind getröstet, wenn sie hören, daß der Gestorbene die Letzte Ölung empfangen hat. Ich war auch noch mit anderen katholischen Kriegspfarrern zusammen und habe bei ihnen festgestellt, daß es vielen nur darauf ankam, die Sakramente zu spenden, da war der Sterbende 'versehen', und sie gingen weiter. - Wie in allen Lazaretten habe ich auch hier jeden Abend auf meiner Trompete gespielt. Manchmal konnte ich fast nicht mehr. Immer wieder kam eine Schwester oder ein Sanitäter, der mich um ein besonderes Lied bat. »Ein feste Burg« hat einer gewünscht, und als ich meinte, das sei doch ein Lied für ein besonderes Fest, da antwortete er, er habe Geburtstag, und das sei doch ein besonderes Fest. So habe ich seinen Wunsch erfüllt. - Jeden Abend, wenn ich in mein Zimmer kam, habe ich noch schnell aufgeschrieben, was ich mit den Verstorbenen geredet habe oder was sie mir noch aufgetragen haben. Ich habe den Saal und die Lage des Bettes aufgeschrieben, wo der Betreffende lag, da konnte ich mir alles besser merken. Ich mußte, und das war besonders schwer, immer zehn Tage warten, wenn einer gestorben war; erst dann durfte ich schreiben. Die Angehörigen sollte die Todesnachricht zuerst durch ihren Ortsgruppenleiter erfahren. Ganz verzweifelt haben mir die Angehörigen geschrieben, ich solle ihnen doch mitteilen, was los sei, wie es gehe; oder wenn sie schon die Todesnachricht hatten, wie denn das Ende gewesen sei; und ich mußte warten und durfte dann nicht einmal den Grund meines Schweigens mitteilen, denn es war ein Geheimbefehl.
Briefe aus den Lazaretten Ich habe fast ausnahmslos jeden Tag, meist spät in der Nacht noch, heimgeschrieben an meine Frau. Die Briefe sind wie ein Tagebuch. Ich will von Briefen aus den Lazaretten abschreiben; auch aus späterer Zeit: Heute war ich drei Stunden bei einem Sterbenden, der mich hat rufen lassen. Eine Schwester war da, aber er wollte mich haben. Ich mußte ihm aus der Bibel erzählen und mit ihm beten. Der einzige Sohn seiner Mutter, der Vater tot. Ich habe ihm die Augen zugedrückt. * Heute hat mich einer gebeten, ich möge doch wieder wie gestern mit ihm beten. Ein anderer hat meine beiden Hände genommen und sich festgeklammert. Beim Spielen auf meiner Trompete ist einer, der gar nicht hätte aufstehen dürfen, auf den Gang zu mir gekommen und hat mich gefragt, ob ich das Leid »Weiß ich den Weg auch nicht« kenne? Ich habe es geblasen. Zwei Brüder von ihm sind gefallen, zwei hat er noch, er ist noch so jung. Die glaubst nicht, wie sich alle freuen, wenn ich spiele, alle sind ganz still. Und wie sie bitten können: »Nur noch fünf Minuten.« * Heute habe ich besonders lange gespielt. Der Chirurg, ein Stabsarzt, hat mich bitten lassen, noch weiter zu spielen und die Tür zum Operationsraum offengelassen. So habe ich weiter geblasen, ein Lied nach dem anderen, bis es nicht mehr ging. * Ein Verwundeter hat mich rufen lassen und gebeten, mit ihm zu beten, er könne nicht einmal mehr das Vaterunser. Er hat meine Hand nicht losgelassen solange ich bei ihm war. Als ich wieder zu ihm kam, sagte er, er habe viele Schmerzen, aber seit ich bei ihm gewesen sei, sei es ihm viel leichter. Bald danach ist er plötzlich gestorben. (1944) * Immer wieder werde ich auch von einem Truppenteil, bei dem ich eine 'Kasernenstunde' gehalten habe, angerufen, ich möchte wieder kommen. * Einer von der Strafkompanie erzählt von einem Gottesdienst, von dem alle furchtbar enttäuscht gewesen seien. Der Pfarrer hat sie als Verbrecher angeredet, das hörten sie schon oft genug. * Es ist nicht einfach, wenn man in ein vollbesetztes Lazarett kommt. Eine Woche bin ich nun da und habe tausend Patienten besucht. Der katholische Kriegspfarrer (nicht Breinbauer) kann es schneller. Er geht von Saal zu Saal, sagt ein paar unverbindliche Worte und geht wieder. * Abwechselnd war ich heute immer bei Sterbenden. Zwei habe ich noch einen Gruß auf ein Briefkarte schreiben lassen, damit ihre Frau noch einen letzten Gruß bekommt. Einem habe ich die Hand geführt, ein anderer war auch dazu zu schwach. (19.1.1943) * Zehn Briefe an Angehörige habe ich geschrieben, nun kann ich nicht mehr. Es gibt so schreckliche Verwundungen. (14.7.1943) * Vier von einer Strafabteilung liegen im Lazarett, halb verhungert: Einer hat nur einen Stiefvater, zwei haben keine Eltern und der dritte hat nur eine Mutter. Die Russenfrauen werfen ihnen heimlich harte Brotbrocken zu und haben doch selbst nichts. Ich habe jeder fünf Mark gegeben, damit sie sich doch etwas kaufen können. Sie haben selbst keinen Pfennig, sie waren so dankbar. (Rostov) * Im 'Kopfzimmer' liegt ein Mann, der sein Gedächtnis verloren hat. Er weiß den Namen seiner Frau nicht. Ich sage ihm viele Namen vor; bei einem leuchtet sein Auge auf, doch im nächsten Augenblick ist es wieder vergessen. Er hat kein Soldbuch bei sich, niemand weiß, wer er ist. Er wird in die Heimat verlegt. Ob er sein Gedächtnis wiederbekommt? * Ein Kriegspfarrer von einem Feldlazarett ist eingeliefert worden. Er ist mit seinen Nerven fertig, hat in kurzer Zeit 1500 Menschen beerdigen müssen.
* Wir halten abwechselnd, der katholische Kriegspfarrer und ich, die Beerdigungen. Heute hatte ich sie zu halten; 51 Tote waren es. (Dnjepropetrowsk) * Ich mache von allen Gräbern Aufnahmen und schicke den Film an die Angehörigen; in Dnjepropetrowsk waren es über 600 - einschließlich der Katholischen. Breinbauer und ich suchen immer die richtigen Soldbücher, die zu den Toten gehören. Wenn wir es nicht täten, würden viele als vermißt gemeldet und viele als unbekannte Soldaten beerdigt. Kein Wunder, wenn zwanzig oder dreißig Verwundete eingeliefert werden und die Soldbücher auf einem Haufen liegen. So habe ich einmal die Namen verwechselt; und als ich die Aufnahme eines Grabes heimgeschickt, schrieben mir die Angehörigen, der »Tote« sei in Urlaub gekommen. Ein verwundeter Hauptmann sagt: »Es war mir so schwer. Da haben Sie gespielt, ein Stück nach dem anderen, und da ist ein Stück nach dem anderen von dem Schweren abgefallen, jetzt ist mir ganz leicht.« * Immer muß ich spielen, überall sehe ich Ihnen die Freude an, wenn ich in den Saal komme. Es sind Verwundete da, die seit 27 Monaten nicht mehr zu Hause waren. Ein Schwerverwundeter hat mich wie ein Kind gebeten, doch bei ihm zu bleiben; er habe doch sonst niemand, mit dem er reden könne. Er hat einen Bauchschuß und ist erst neunzehn Jahre alt. * Es ist bald Mitternacht, achtzehn Briefe habe ich geschrieben. (23.8.1943) * Ein Verwundeter wurde eingeliefert, der den rechten Arm neben sich liegen hatte. Er war fast abgeschossen, da hatte er ihn vollends weggerissen; er wollte den Ehering mitnehmen. * Einer diktiert mir an seine Braut einen Brief. Er sagt ihr, im Frühjahr werde es nichts mehr mit dem Heiraten, sie müßten bis zum Herbst warten; dabei steht ihm der Tod schon auf dem Gesicht geschrieben. Mir sind beim Schreiben die Tränen gekommen. Er ist bald darauf gestorben. * Ein Verwundeter erzählt von seinem Divisionspfarrer: »Ich habe zum Abendmahl gehen wollen, aber wir waren nur drei; da meinte der Pfarrer, es lohne sich da nicht.« * Ein Pfarrersohn, Student, liegt mit einem Lungenschuß Monate im Lazarett. Es wird immer schlechter mit ihm; ich schreibe fast jeden Tag an seine Eltern. Der Vater beschwört mich, ihm doch zuerst zu schreiben, wenn sein Sohn heimgegangen ist. Er wolle die Nachricht nicht durch den Ortsgruppenleiter erfahren. Ich schreibe, daß ich nun jeden Abend meinen Brief wie bisher an ihn schreiben werde, ihn aber erst am nächsten Morgen zuklebe und dazuschreibe, wie er die Nacht verbracht habe. Wenn der Zusatz fehle, dann sei er in der Nacht verstorben. So habe ich es gemacht, und der Vater war mir so dankbar dafür. Ein Jahr vor seinem Tode hat er einen Abschiedsbrief an seine Eltern geschrieben; darin steht u. a.: Ich gebe diesen Brief Dieter für den Fall meines Todes. Ich möchte Euch bitten: Weint, aber klagt und zweifelt nicht! Ich bin in dem festen Glauben meines Herrn in den Tod gegangen, und Ihr müßt nun zeigen, daß Ihr durch ihn eine Kraft empfangen habt. Ich weiß, es ist für Euch jetzt schwerer als für mich. Denn ich glaube fest, daß mich der Herr in Gnaden annimmt. ... Sucht mich nicht im Grab. ... Mutti, ich schenkte Dir vor einigen Tagen einen Spruch und mit Bewußtsein diesen Spruch: Geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet! Hänge Dir diesen Spruch so, daß Du ihn immer sehen kannst und denke immer daran, daß ich ihn Dir geschenkt habe. Auch ein Gedicht hat er hinterlassen, der letzte Vers heißt: Die endlose Straße! Was bedeutet das Wort? Ein SS-Sturmführer im 'Kopfzimmer', »unansprechbar« sagt der Arzt. Immer redet er mich mit Doktor an und fragt dann, wenn ich ihm sage, daß ich der Pfarrer sei, ob ich wiederkomme, dann schweigt er. Dann bleibe ich einmal an seinem Bett sitzen und bitte ihn, mir doch zu sagen, was er auf dem Herzen habe. Da kommt es, kaum hörbar, heraus: »Meine Frau erwartet ein Kind, ich wollte es nicht taufen lassen, aber schreib ihr, sie soll es taufen lassen. Detlev soll es heißen, wenn es ein Bub ist.« Dann konnte ich nichts mehr mit ihm reden, nicht lange danach war er tot. Seine Frau war so glücklich, als ich es ihr schrieb. Sie meinte, sie hätte es nicht fertiggebracht, Detlev - es wurde ein Bub - nicht taufen zu lassen; aber furchtbar schwer wäre es ihr gewesen, wenn sie gegen den Willen ihres Mannes, der ihr die Taufe verboten hatte, hätte handeln müssen. * Ich habe es kaum erlebt, daß ich abgelehnt worden bin. Drei haben einmal um das Heilige Abendmahl gebeten und sind bald darauf gestorben. In den Soldbüchern erst sah ich dann, daß sie alle drei aus der Kirche ausgetreten waren. Freilich, zwei- oder dreimal wurde ich von Sterbenden abgelehnt. Einer antwortete mir auf die Frage, ob ich ihm irgendwie helfen könne - er war gerade eingeliefert worden und lag auf der Trage im Hausflur -: »Ich brauche keinen Pfarrer, ich bin aus Berlin, das kann Ihnen genügen. Sagen Sie mir nur: Werde ich heute Nacht abkratzen oder wird es noch länger dauern?« Er ist in der Nacht gestorben. * Einer, der aus der Kirche ausgetreten war, sagte, ich dürfe schon mit ihm beten, aber nicht so, wie in der Kirche. Er sei aus der Kirche ausgetreten, weil sie das bei der SA verlangten. Aber was die sagten, glaube er auch nicht mehr. * In einem Saal, in dem ich die Weihnachtsgeschichte vorgelesen habe, sagten sie, sie könnten die ganze Nacht zuhören, ich solle bald wiederkomme. * Viele Patienten geben mir einfach die Briefe ihrer Frau, ich solle sie beantworten. * Immer wieder besuchen mich Kollegen und bleiben bis spät in die Nacht. Ich lasse mir nicht anmerken, daß ich noch viel zu tun habe. Es tut ihnen wohl, einmal gemütlich in einem Zimmer sitzen zu können. * In der Totenkammer liegen 27 Tote, und gestern war erst Beerdigung. Heute habe ich zwei Soldaten beerdigt, die von Polen überfallen wurden, als sie von der Front zurückkamen, um in Krakau einzukaufen. 20 Geiseln wurden dafür erschossen. * Ich war am Massengrab, das man gefunden hat. Die Toten sehen aus wie Mumien; bei vielen sind die Hände auf den Rücken gebunden. Manche haben den Mund weit offen. In der Stadt sind Bilder von den Toten ausgestellt und Sachen, die bei ihnen gefunden wurden; das soll zur Identifizierung helfen. 8000 hat man bis jetzt geborgen. (Winnizza) [Weiter im Text]
Heute war ich im Standortgottesdienst, ein älterer Kollege hat ihn gehalten. Vom tapferen Soldatenherzen und vom Herz auf dem rechten Fleck hat er gesprochen aufgrund des Gleichnisses vom Barmherzigen Samariter. * 225 Blätter habe ich in meinem Heft, auf jedem steht der Name eines Toten mit allen Angaben. Hinter jedem Namen steht ein Schicksal, manchmal so schrecklich grausam. * Ich bin so müde, daß ich den Federhalter kaum noch halten kann. Ich war den ganzen Tag bei einem Sterbenden. Er hat nach dem Heiligen Abendmahl verlangt. Eine Stunde lang konnte ich dann noch mit ihm reden. Dann hat er das Bild seiner Braut vor sich gehalten, das dann auch auf die Seite gelegt und langsam das Vaterunser mitgebetet. Dann hat ihn das Bewußtsein verlassen. * Viele sterben kurz nach Mitternacht. Eine russische Schwester gibt mir Kaffee, sie sorgt so für die Kranken, wie es eine deutsche Schwester nicht besser könnte. * Ein Russe wurde eingeliefert, den Kiefer zertrümmert. Der Kieferchirurg gibt eine Spritze
und sagt dann fast lachend: »Ein Deutscher wäre daran sofort gestorben.« Eine zweite Spritze
tut dann die beabsichtigte Wirkung. * Ich weiß nicht, wie ich es mit meinen Besuchen machen soll. Wenn ich alle vier oder fünf Tage komme, fragen sie mich, warum ich so lange nicht gekommen sei. Die Schwerverwundeten besuche ich jeden Tag. Tausend Patienten sind da! Wie soll ich sie alle zwei Tage besuchen?! * Heute sagte einer, der über vierzig Grad Fieber hatte: »Warum kann denn meine Mutter nicht da sein, sie wüßte, was ich brauche.« * Ich saß bei einem, der sehr hohes Fieber hatte und gab ihm zu trinken. Ich könne es besser als die Schwester, meinte er, und ich mußte bei ihm bleiben. Erst als er eine Spritze fürs Schlafen bekommen hatte, durfte ich gehen, mußte aber versprechen, wieder zu kommen, wenn er nicht schlafen könne und mich rufen lasse. * Aus allen Zimmern rufen sie heraus, wenn ich vorbeigehe, alle brauchen sie etwas. In einem Zimmer haben sie sich beschwert, daß ich bei ihnen noch keinen Gottesdienst gehalten habe. Morgen will ich es tun. * Der Heeresgruppenpfarrer hat mich besucht; er wollte nur ganz kurz bleiben, blieb aber dann zweieinhalb Stunden. * Ein Kriegspfarrer hat Standortgottesdienst gehalten. Er predigte, wie müßten dankbar sein,
daß wir einen Führer hätten, der uns von Sieg zu Sieg geführt habe. Er ließ singen: * »Es ist wunderbar«, sagte ein Verwundeter, der aus Stalingrad ausgeflogen worden war, »wenn man ins Lazarett eingeliefert wird, und man hört plötzlich einen Choral blasen.« * Wenn ich vor Zimmern mit Schwerverletzten blase, denke ich an das Wort von Kuhlo, es sei nicht leicht, einen mit Blasen aufzuwecken, aber eine Kunst, ihn einzuschläfern. - Heute wollte einer eine Wette eingehen, daß ich ein Flügelhorn habe und keine Trompete. * Einmal hatte sich ein Major, der auf der Ohrenstation lag, zum Gottesdienst angemeldet und gesagt, die Kameraden von der Ohrenstation kämen alle mit; ich möchte nur etwas laut sprechen, da er sehr schlecht höre. Die Kapelle war voll; ich habe sehr laut gesprochen, so laut, daß mich nach dem Gottesdienst Kriegspfarrer H. und eine Schwester fragten, ob ich irgendeine schlechte Nachricht bekommen habe, weil ich so aufgeregt gesprochen habe. Der Major saß nur ein paar Schritte vor mir, beide Hände lauschend an den Ohren. Als er sich dann für den »schönen Gottesdienst« bedankte und ich ihn fragte, ob er denn auch alles verstanden habe, sagte er: »Leider kein Wort«. Er hörte wohl überhaupt nichts mehr. - Vor einem Gottesdienst bei einer Krankensammelstelle hatte ich alle eingeladen und ihnen gesagt, mein Trompetenspiel ersetze das Läuten. Dekan T., der Heeresgruppenpfarrer, kam zum Gottesdienst und war schon etwas enttäuscht, als fünf Minuten vor Beginn noch niemand da war. Da sagte ich, ich werde noch ein paar Choräle spielen. Kaum hatte ich angefangen, strömten sie von allen Seiten herbei, und der Raum war bis auf den letzten Platz gefüllt. Nach dem Gottesdienst meinte der Dekan: »Es ist doch erstaunlich, was so eine Trompete ausmacht.« Ich habe ihm das Geheimnis nicht verraten. Ich habe viele, viele Briefe von den Angehörigen bekommen. Ich habe manche aufgehoben, will sie aber nun wegtun. Sie zeugen alle nur von dem furchtbaren Schmerz, den der Krieg mit sich bringt. Nur eine Mutter schrieb an den Chefarzt auf die Todesnachricht von ihrem Sohn: »Ich bin stolz, einen so lieben Menschen dem Vaterland opfern zu dürfen.« Aber sicher kann nur eine unter Tausenden so fühlen. Einige Erlebnisse im Lazarett Ein großer Saal mit Verwundeten, keine Schwerverwundeten dabei; immer das gleiche ängstliche Gefühl: Wie werde ich aufgenommen? Oft entscheidet der erste Augenblick, so auch hier: Ich stelle mich vor, und sofort kommt es aus dem ersten Bett in der Ecke: »Ein Pfarrer kommt zu uns, da freuen wir uns. Ich habe eine Berliner Schnauze; aber das sage ich, wer an der Front war, der hat gebetet, oder will es einer von euch bestreiten, Kameraden?« Es hat keiner bestritten, und ich bin lange in dem Zimmer geblieben. Ein paar Tage später. Wieder der erste entscheidende Augenblick; diesmal aber ist es besonders schwierig. In dem Saal, den ich zum ersten Mal betrete, liegen nur Geschlechtskranke, keiner muß im Bett liegen. Etwa zwanzig Augenpaare starren mich fragend an. Ich stelle mich vor und wieder übernimmt sofort einer das Wort, aber nun so ganz anders als ein paar Tage vorher. »Ein Pfarrer sind Sie? Einen solchen brauchen wir nicht, Sie wollen uns ja doch nur Viehzüchter- und Zuhältergeschichten erzählen.« Das kenne ich nur zu gut aus meiner Nürnberger Vikarszeit, und ich antworte sofort: »Sie lesen wohl den Stürmer?« »Ja, der Stürmer ist meine Zeitung, wollen Sie etwas gegen den Stürmer sagen?« »Nein, das will ich nicht, er geht mich nichts an, aber Ihnen möchte ich nur eines sagen: Erzählen Sie mir eine einzige solche Geschichte. Wenn Sie mir nur eine erzählen, dann werde ich das Zimmer sofort wieder verlassen und Sie nicht weiter belästigen.« Alle standen jetzt um uns herum und starrten den Kameraden an. Der besann sich einen Augenblick und sagte dann: »Mir fällt gerade keine ein.« Jetzt hatte ich die Lacher auf meiner Seite, aber mein Gegner gab noch nicht auf. »Sie wollen uns vielleicht gar etwas vom Beten sagen; ein Mann betet nicht.« Nun sah ich den Mann mit der 'Berliner Schnauze' vor mir und entgegnete: »Ich habe Ihnen gerade versprochen, zu gehen, wenn Sie mir eine solche Geschichte aus dem Alten Testament erzählten. Nun verspreche ich Ihnen noch einmal, sofort zu gehen, wenn Sie mir auf meine Frage mit einem »Ja« antworten können: Waren Sie an der Front?« Ein kurzer Augenblick, dann: »Wir vom Nachschub haben auch unsere Pflicht getan.« Weiter konnte er nichts mehr sagen; die Kameraden sorgten dafür, schnell lag er auf seiner Pritsche. Mit den übrigen saß ich noch lange am Tisch und redete mit ihnen von den Geschichten des Alten Testamentes und dem Gebet. Am nächsten Tag waren sie alle im Gottesdienst, den ich im Geschlechtskrankenlazarett hielt. - Freudig begrüßen mich die Kameraden in einem Zimmer, in dem ich schon lange bekannt war: »Schicksal, Herr Kriegspfarrer, Schicksal, daß wir heimdürfen ... und die anderen nicht« - sie deuten dabei auf das nächste Zimmer. Ich freue mich mit ihnen und gehe in das andere Zimmer. Dort kommt keinem das Wort 'Schicksal' über die Lippen. Es ist das 'Lungenzimmer' und alle sind dem Tode geweiht. Nur die Frage wird laut: »Warum?« - Ein Lazarettzug ist angekommen, alle Zimmer und Gänge sind voll von Verwundeten. Da plötzlich höre ich ein freudiges Rufen: »Das ist doch unser Kriegspfarrer«; ein Leutnant, den ich im Gefängnis oft besuchte hatte, war zum Schützen degradiert worden und hatte Frontbewährung bekommen. Jetzt hatte er den rechten Arm verloren. -
Briefe von Angehörigen Wie ich schon geschrieben habe, hatte ich neben meinem Dienst an den Verwundeten und Sterbenden noch eine andere Aufgabe, die mir viel Zeit wegnahm: die Briefe an die Angehörigen. Da ich wußte, daß die Angehörigen immer noch einmal etwas wissen wollten, habe ich zuerst nur kurz geschrieben und dann erst ausführlich. Ein Pfarrer, der im Krieg Offizier war, hat mir nach dem Kriege einmal gesagt, der Dienst mit der Waffe sei wichtiger gewesen als der Dienst als Pfarrer. Wenn ich nur einige Auszüge aus den Briefen lese, die ich aufgehoben habe, weiß ich, daß ich an der richtigen Stelle war und daß dieser Dienst viel, viel wichtiger war als der Dienst mit der Waffe, den ich ja über ein Jahr mitgemacht hatte: Eine Mutter: Es liegt mir alles daran, daß mein Kind selig sterben konnte. Weil ich nun alles aus Gottes Hand nehme, so halte ich stille, wußte ich ihn doch von Kindheit an im CVJM in Dorpat. Später wurde er Führer der Jugend dort. Gott sei diesen seinen Kindern gnädig und barmherzig. Nochmals herzlichsten Dank und Gottes Segen! * Eine Mutter an den Chefarzt des Lazaretts: Bitte, verzeihen Sie, aber es ist schade, daß Sie meinem Sohn von dem hoffnungslosen Zustand seiner Gesundheit nichts gesagt haben. Er war christlich erzogen und würde vor dem Tode keine Furcht haben und sich zur Ewigkeit mehr vorbereiten. Dabei hätte er auch seinen Angehörigen noch ein letztes Wort hinterlassen. Der Chefarzt schrieb routinemäßig an alle Angehörigen, der Verstorbene sei eingeschlafen, ohne etwas von seinem Sterben zu ahnen. Ich konnte die Mutter beruhigen und ihr schreiben, wie es wirklich war: Ich bin gegen 10 Uhr zu ihm gekommen und sah gleich, daß es bald zu Ende gehen werde. Er bat mich, mit ihm zu beten, und erzählte von seiner Mutter. Während wir dann das Vaterunser noch miteinander beteten, schlief er beim Amen ein. Er war bewußtlos. Eine Stunde blieb ich bei ihm und hielt seine Hand. Das Atmen wurde immer kürzer, und als ich schon glaubte, er habe den letzten Atemzug getan, sagte er plötzlich ganz langsam noch einmal: A m e n. Dann drückte ich ihm die Augen zu. Eine Frau: ... Es ist für mich ein sehr schweres hartes Leid; aber fügt es Gott nicht immer so, daß es zu ertragen ist? - Nach sechsjähriger glücklicher Ehe erwarte ich jetzt ein Kindchen als letztes großes Geschenk meines lieben Mannes, und das soll mir Trost sein. Möge mir die Freude vergönnt sein, daß ich in dem Kindchen meinen lieben Mann vor Augen habe, dann will ich Gott danken. Eine Mutter: ... Haben Sie ganz besonderen Dank für Ihre Mühe und Gott wolle Sie belohnen dafür. Ich denke mir, Sie sind wie ein gütiger Vater, der für seine Kinder sorgt. Diese Jungen brauchen in einem solchen Kampf noch einen Schutz. Eine Braut: Ich möchte Ihnen für die Worte wärmster Anteilnahme an dem herben Verlust meines geliebten Verlobten herzlichst danken. In meinem schweren Leid sind mir die Worte unseres Herrn Jesus Christus ein wirklicher Trost. ... Wenn wir auch jetzt nicht erkennen können, weshalb wir dieses schwere Leid tragen müssen; aber einst wird die Stunde kommen, da wir wissen, »was Gott tut, das ist wohlgetan«. Jesus sagte: »Was ich tue, das wißt Ihr jetzt nicht, Ihr werdet es aber hernach erfahren.« Daran will ich mich halten. Es grüßt Sie in Glaubensverbundenheit ... Ein Vater (Rechtsanwalt Dr. jur.): ... Ich bin des Trostes sehr bedürftig. Wie sehr habe ich um meinen Dieter (Math.-Student, an Bauchschuß nach langem Leiden gestorben), getrauert, und nun nimmt mir Gott nach so kurzer Zeit, ebenso überraschend, ebenso gewaltsam, mein gutes, letztes liebes Kind Trude, mitten aus blühendem Leben. (Im Gebirgsfluß in den Alpen ertrunken). Was soll das heißen? Wie ist es mit den Haaren, die doch alle gezählt sind? Warum mir das? Werde ich bald folgen dürfen? Ja, ich fühle mich beheimatet zwischen zwei Welten! Aber die alte ist nicht mehr schön! Sie ist leer und gegenstandslos. Die Jugend so genommen! Das Alter bleibt übrig! Was sagen Sie dazu? Sie hatten so viel Verständnis! Dazu die Bombennacht vom 25.2., die mir alles nahm. Was soll das also? Ich bin so gebeugt, mein Herz ist unsagbar schwer. Wo sind meine Kinder? Sind sie beisammen? Wie kann ich sie erleben? Sagen Sie mir etwas dazu, Herr Pastor! Ich grüble und zermartere mich, einen Sinn zu finden, dem ich auch in Demut und Gehorsam mich beugen kann! Wo ist dabei mein himmlischer Vater? Wo ist dabei der Heiland, der die Welt überwunden hat? Sprechen sie zu mir? Wie kann ich das hören? Mit herzlichen Grüßen ... * Vater einer Braut: ... Ich bin der Vater meiner einzigen Tochter Hilde, die demnächst die Braut des nunmehr im Kriegslazarett zu Rostov am 10.1.1943 seinen schweren Verwundungen erlegenen Gefreite Heinrich G. von hier werden sollte. ... Das Herz krampft sich uns zusammen. ... Hat denn, lieber Herr Pfarrer, Ihnen der arme Mensch während Ihrer Besuche bei ihm erzählt, daß er einst im Sommer 1922, kaum drei Wochen nach dem furchtbaren Raubmord an seinem damals 18 Jahre alten Bruder Heinrich, geboren wurde? Der entsetzliche Schlag, den seine damals vor der Niederkunft stehende Mutter getroffen hat, blieb anscheinend nicht ohne Folgen auf das Gemüt des werdenden Kindes; denn der Junge war allezeit ein tiefernster Mensch und fühlte sich stets geborgen im Kreise einiger junger Männer und Mädchen des hier bestehenden Jugendbundes. So fanden sich dieser Heinrich G. und mein einziges Töchterlein Hilde, die zusammen die Schule besuchten, dann 1937 zusammen konfirmiert wurden, in wahrhaft göttlichem Christenleben innerhalb des Jugendbundes auch in der echten Liebe zusammen. ... Sie haben einem lieben Gotteskind in seinen letzten schwersten Tagen noch göttlichen Trost und das Heilige Abendmahl reichen dürfen. ... Eine Mutter: Mein lieber Herr Pfarrer Leonhard! ... Wie stark müssen Sie sein, wo Sie den Tod bei blühenden jungen Menschenkindern so oft sehen müssen. Da gehört himmlische Kraft dazu. ... Ich danke Herrn Pfarrer noch vielmals herzlichst für die Vorbereitung auf die Ewigkeit. Das ist mein einziger Trost. Ich hatte in der Nacht vom 1. auf den 2. Juli einen schönen Traum. Über unserem Haus stand ein wunderbarer Kranz, an der Seite ein Strauß Kornblumen, Mohnblumen und dann lauter wunderbare Rosen: dann eine lange doppelte goldene Schleife dran. Die Sonne schien golden und der Kranz schwebte ganz langsam zum Himmel seitwärts über die Tannen hinweg. Das war die letzte Nacht, als mein Liebstes auf der Erde weilte. - Gott befohlen! Eine Mutter: Mein lieber Herr Leonhard! Oh, welch eine große Freunde, wenn auch sehr schmerzlich, haben Sie mir gemacht mit dem Bild vom Grabe. Von ganzem Herzen danke ich Ihnen dafür. ... Gott möge Ihnen beistehen und Sie behüten. Ich bete für Sie, damit, wenn es Gottes Wille ist, Sie gesund Ihre Heimat und Ihre Lieben wiedersehen. Ich danke Ihnen nochmal, daß Sie mit meinem Jungen gebetet haben. Sein Lieblingslied war immer: »O Ewigkeit, du schöne ...«. Gott möge mich stärken. Vom Leid tief gebeugt und doch meinen Blick fest nach oben, wo meine Hilfe kommt. ... Ihre ... * Eine Mutter: Lieber Herr Pfarrer Leonhard! Aus überströmendem Herzen möchte ich Ihnen danken für Ihren lieben Brief. Ich habe ihn so oft gelesen, bis ich blind vor Tränen war. Im Geist drücke ich Ihnen Ihre lieben Hände, die mein einziges, geliebtes Kind in seiner letzten Stunden gehalten haben. ... Er war so gar keine Soldatennatur. Seine Bücher gingen ihm über alles, und er freute sich auf sein Studium. - Ich habe schon soviel Schweres im Leben durchgemacht, nun auch mein Heim und die ganze Wirtschaft diesem schrecklichen Krieg geopfert. * Ein Vater: ... Unser sterbender Sohn vermochte seinen Eltern noch neue Kraft und Stärke zu übermitteln. ... In herzlicher Verbundenheit. Ein Vater: Für Ihre lieben Zeilen und Ihre Mühe und Aufmerksamkeit sage ich Ihnen und auch im Namen meiner Frau herzlichen Dank. Sie können sich ja wohl selbst denken, daß wir alles, was mit dem Tode und den letzten Lebensstunden unseres 17 Jahre alten Sohnes Paul zusammenhängt, gerne erfahren möchten. ... Es ist bereits unser zweiter Sohn, der in diesem Alter von uns gehen mußte. Ein Vater: ... Wir hoffen, daß Sie unser Brief noch gesund erreicht und daß Sie Kraft finden mögen, Ihr schweres Werk zum Wohle unserer armen Menschen weiterhin auszuüben. Ein Vater: ... Nicht Worte noch Schrift kann Ihnen für die mühevolle Tat danken, die Sie mir und meiner Familie getan haben. Es ist eine Gabe Gottes, wenn man sieht, daß Sie so liebevoll sind und versuchen, uns in unserem großen Schmerz und schweren Leid hinwegzuhelfen. Eine Mutter: Mein lieber, guter Herr Pfarrer Leonhard! Tiefbewegt und von ganzem Herzen gebrochen sende ich Ihnen diese Zeilen. Ich möchte Ihnen so viel schreiben, aber mein Herz ist so schwer und so voll Schmerz. Mein lieber, guter Herzenssohn, mein über alles geliebter Sonnenschein ist in die Ewigkeit zu seinem lieben Bruder Ewald, der am 22. Februar in Stalino gefallen ist, vom lieben Heiland gerufen. ... Der Wille unseres lieben Heilandes hat es entschieden. Denken wir an all die großen Schmerzen, welche er mit so großer Geduld getragen hat. Die Kraft hat er geschöpft aus unserem Gebiet und seinem festen, unerschütterlichen Gottesglauben. Unser himmlischer Vater hat ihn vom Irdischen erlöst und zu sich genommen in die ewige Seligkeit, wo es keine Tränen mehr gibt. ... Das ist mein einziger Trost, daß man lieber, guter Alfred wohl vorbereitet, versehen mit dem Heiligen Abendmahl, die Hoffnung hatte auf ein Wiedersehen beim himmlischen Vater. ... Lieber Herr Pfarrer Leonhard! Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für all Ihre Mühe und Aufopferung, welche Sie in so reichem Maße diese vier Monate größter Leiden und Schmerzen meinem lieben, guten Alfred geschenkt haben. Sie waren ihm sein liebster Freund, das weiß ich bestimmt. Viele liebe und treue Grüße! Ein Vater: ... Es war unser zweiter und letzter Sohn. Der erste ist schon im Jahre 1940 gefallen. Durch die völlige Zerstörung unseres Heimes (in Wuppertal) sind auch sämtliche lieben Erinnerungen an unsere Kinder vernichtet worden. - Sollten Sie irgendetwas in Erfahrung bringen über die letzten Stunden unseres Sohnes, so wären wir Ihnen von Herzen dankbar. (Habe mit dem Sterbenden nicht viel reden können und wollen, da er sehr große Schmerzen hatte. Habe die Schwester gebeten, an die Eltern zu schreiben.) Eine Frau: ... Ich kann es einfach nicht fassen, daß ich ihn nie mehr zurückbekomme. Er ist strahlend vom letzten Urlaub an die Front gefahren. Dieses »nie wieder« ist schrecklich. Ich habe so jeden Halt verloren und stehe immer vor einer Wand. Mein Mann war mir alles. Ich habe gebetet, jeden Morgen und jeden Abend und danach gelebt, und es ist alles zwecklos gewesen. ... (Dann die Bitte, mich nach seinem Tagebuch umzusehen.) Sicher hat er im Urlaub noch etwas hineingeschrieben. Ich habe ja alles aus der Zeit in Rußland nicht lesen dürfen. »Später«, sagte er immer, »wenn der Krieg vorüber ist.« (1912 geboren) Eine Frau: Tausend Dank für Ihre trostreichen Worte, für Ihre Mühe. Bin Ihnen, Herr Pfarrer, zu großem Dank verpflichtet. Für die Aufnahme am Grab meines lieben Mannes möchte ich Ihnen besonders danken. Trotz dem harten Leid ist es ein wenig Freude im Herzen. Bitte, Herr Pfarrer, hat mein Mann nichts von mir, von unserem Kinde, das ich unter dem Herzen trage, gesprochen? Mein Mann war so glücklich darüber und nun soll alles vorbei sein. Wie hab ich gebetet und gefleht um Erbarmen. ... Wie wohl tuts, wenn man Worte hört, die der Liebste gesprochen hat. Dafür danke ich Ihnen tausendmal. Für mein Kind, als letztes Vermächtnis, werde ich leben, aber das Herz ist wund. Möge Gott mir die Kraft geben, alles zu tragen, dann will ich dankbar sein um des Kindes willen. (1916 geboren; lag vergessen fast zwei Tage im Sterbezimmer, dann im Kopfzimmer, hat wegen Kopfsteckschuß kaum noch etwas sagen können.) Eine Frau: (Dank für Aufnahme des Grabes) ... Wie dankbar bin ich, daß mein lieber Mann noch dieses große Geschenk einer ehrenvollen, christlichen Beerdigung erhalten hat. Inzwischen ist der Friedhof längst nicht mehr in deutscher Hand, aber was tuts? Die Seele ist woanders, und der kann niemand etwas anhaben. ... Mit vielen guten Wünschen für Sie in Ihrem schweren, aber auch schönen, segensreichen Beruf bin ich Ihre dankbare ... (Hauptmann, 1914 geboren, aus Hamburg. Ich war noch am Vorabend seines Todes bei ihm.) Mutter, ersten Mann im Weltkrieg 1918 verloren, wieder geheiratet, nach 3 Jahren Sohn, im
zweiten Weltkrieg der zweite Mann gestorben und acht Wochen später der Sohn eingerückt
nach Frankreich und Rußland, nie mehr im Urlaub, 1943 mit 21 Jahren an Verwundung
gestorben. Nach Nachricht von Verwundung: Frau auf Nachricht von Verwundung, Brief am 5. Mai geschrieben: (Am 12.5. gestorben, Kopfschuß, bewußtlos, völlig aufgelegen bis auf die Rippen. Bruder wollte ihn zwei Tage nach dem Tod besuchen. Gut, daß er ihn nicht mehr in diesem Zustand sehen konnte.) Vater: ... Wir können es immer noch nicht glauben, daß mit seinem Tode die Krone von unserem Lebensbaum gebrochen ist, daß unser schönes Haus, unser Alter einsam und liebeleer sein soll. Aber wir wollen in schweren Stunden immer daran denken, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen. (Sohn 19 Jahre alt.) Frau: Schreibt, daß sie seit der Nachricht von der Verwundung ihres Mannes täglich geschrieben hat. Kein Brief kam an. Einen Tag nach dem Tode kam der erste an. - Habe der Frau geschrieben, daß ich ihren Mann oft besuchte, daß er in einem Zimmer lag, das mir gegenüber war, daß ich mit ihm gebetet und auf seinen Wunsch auf der Trompete, die ich immer dabei hatte, das Lied »So nimmt denn meine Hände« gespielt habe. Mutter: Lieber Herr Pfarrer! Ach, wie dank ich Ihnen für Ihren lieben, lieben Brief und den Film vom Grabe meines Kindes. ... Gewiß haben Sie auch an seinem Sterbebett gebetet. Haben Sie ihn auch beerdigt? Bitte, beten Sie an seinem Grabe. Willy war mein jüngster von meinen vier Söhnen. ... Mein Zweitältester ist seit August 1942 bei Orel vermißt. Er war Diakon in Rummelsberg. Der Große von meinen beiden Söhnen steht in Rußland, der andere in Finnland. Im Mai vorigen Jahres starb mein erster Mann. - Der Herr führt mich dunkle Wege, aber in seinem Lichte wird einmal alles Dunkle Licht sein. (19 Jahre alt.) Frau (Dr. med.): Sie brachten mir viel Trost und Beruhigung, Herr Pfarrer. Ich danke Ihnen nochmals von ganzem Herzen. Nun noch einige Auszüge aus Briefen von Angehörigen an die Verwundeten, die ich nicht mehr vorlesen bzw. übergeben konnte: Ein Bruder an den Bruder: Wie froh und dankbar sind wir, nach langem, bangem Warten nun endlich etwas über Dich durch den lieben Kriegspfarrer Leonhard zu hören. Ach, liebes Brüderlein, unsere Herzen weilen alle ständig bei Dir und helfen tragen an Deinen Schmerzen und Deinem Leid. Wir beten täglich immer wieder für Dich zu unserem treuen Herrn, daß er dich erhalte. ... Gott allein kann alle Bemühungen segnen, welche man Dir zuteil werden läßt, und das ist so schön, ihm völlig zu vertrauen. (Bruder auf Urlaub.) Mutter von diesem: Der treue Gott, unser lieber Vater, der uns durch Jesus zu seinen Kindern gemacht hat, läßt nur zu, was gut für uns ist. Der Vater des gleichen: Gestern erhielten wir durch den lieben Pfarrer Leonhard nähere Auskunft über Dich. Unser Trost bei all diesem Warten war, daß wir Dich in Gottes treuer Vaterhand wußten, der Dich zu bewahren vermochte. Und nun bist Du in die Hände guter Menschen gekommen; darüber freuen wir uns und danken Gott dafür. ... Und sollte es nach Gottes heiligem Rat anders werden, so wissen wir aus seinem untrüglichen Worte: »Leben wir, so leben wir ... « (Röm. 14, 7, 8) Er selbst, unser Herr Jesus Christus und unser Gott und Vater hat uns ewigen Trost und eine gute Hoffnung gegeben durch seine Gnade. (2. Tess. 2, 16) Die Mutter dazu: Mein liebes Kind, am 3.4. habe ich es gefühlt, daß Dir etwas passiert ist. Ich hatte mir den Tag aufgeschrieben. Der Herr Jesus hat es zugelassen, der hilft es Dir auch tragen. Die Wege Gottes sind in der Tiefe des Meeres, die können wir nicht ergründen. Uns soll aber alles zum Guten dienen. (Schwere Kopfverwundung, habe öfters an die Eltern geschrieben, noch kurz vor dem Tode, daß es sehr ernst stehe, Vater Landwirt.) Es ist ein schöner Gedanke, zu wissen, daß in vielen, vielen Wohnungen in ganz Deutschland, im Westen und im Osten die Aufnahmen von den Gräbern hängen, die ich gemacht habe; allein vom Soldatenfriedhof in Dnjepropetrowsk über sechshundert. Ich hätte die Aufnahmen nicht ohne die Hilfe meiner lieben Frau machen können. Sie hat an alle Fotogeschäfte, die sie ausfindig machen konnte, vor allem in Nürnberg, geschrieben und so viele Filme bekommen, daß ich immer welche hatte. Nur der letzte Film mit den Aufnahmen aus Bad-Podiebrad ist im Apparat geblieben, den mir die Russen bei meiner Gefangennahme abgenommen haben. - Ich frage mich manchmal, wenn ich an jede schwere Zeit zurückdenke, wo mein Dienst am dankbarsten angenommen wurde, und ich weiß keine Antwort; im Lazarett oder bei der Division oder im Gefängnis? Sie standen alle an der Grenze zwischen Leben und Tod. Bei einer Zusammenkunft aller Kriegspfarrer bei der Heeresgruppe Süd mit dem Feldbischof D. Dormann saßen wir alle in einem großen Kreise, jeder sollte von seiner Arbeit erzählen. Der erste fing an und erzählte nur von den Schwierigkeiten, die er hatte. Der zweite fuhr fort und so weiter; jeder redete nur von seinen Sorgen und Nöten. Das Gesicht des Feldbischofs wurde immer ernster. Dann kam ich an die Reihe. Ich hätte auch von manchen Schwierigkeiten reden können; aber das brachte ich jetzt nicht mehr fertig. Ich erzählte nur von all dem, das mich alle Tage dafür danken ließ, daß ich diesen Dienst tun dürfe. Mit gleicher Dankbarkeit denke ich heute noch an diese schwere Zeit zurück, in der ich doch erleben durfte, daß »das Wort nicht leer zurückkommt, sondern ausrichtet, wozu es gesandt ist«.
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